Das Kind in mir . . . reagiert! – von Simran Wester
„Als du gesagt hast, dass du mich zu deiner Geburtstagsfeier nicht einladen willst, weil ich mich nicht gegen Corona habe impfen lassen, war ich erst einmal sehr wütend und verletzt. Das habe ich dich auch spüren lassen, mit ein paar heftigen Vorwürfen und Unterstellungen. Die bedaure ich jetzt, weil ich weiß, dass dein Verhalten nicht persönlich gegen mich gerichtet war. Vom Kopf her konnte ich sogar ein Stück weit verstehen, was Deine Beweggründe waren, aber tief in mir drin fühlte ich eine riesige Ohnmacht und Verzweiflung. Später ist mir bewusst geworden, dass ich diese Erfahrung des Ausgeschlossen-Werdens aus meiner Kindheit kenne, wo ich wegen irgendwelcher Lappalien vom Abendessen verbannt wurde oder vor die Tür geschickt wurde. Plötzlich gehörte ich nicht mehr dazu.
Ich glaube, diese blöde Corona-Situation hat all die alten Ängste und Verletzungen in mir wieder aktiviert, und darum habe ich so heftig reagiert. Kannst du das nachvollziehen? Und magst du mir sagen, was es in dir auslöst, wenn du das von mir liest?“
Dies ist ein Ausschnitt aus einem Brief, den ich mit einer Frau zusammen verfasst habe. Sie wollte sich mit einer Freundin nach einer langen Funkstille wieder aussöhnen. (Ich habe ihre Genehmigung, dies hier zu veröffentlichen.) Was ihr passiert ist, kennen vermutlich alle. Wir reagieren spontan auf etwas, unüberlegt, und erschweren damit eine Verständigung.
Wenn wir spontan auf einen „Trigger“ reagieren, verhalten wir uns meist nicht mehr erwachsen. Unsere spontanen Reaktionen stammen aus dem Bereich unseres Gehirns, das seit unserer Kindheit Muster entwickelt hat, wie wir auf Verletzungen, Herausforderungen, Stress und bedrohlich Erscheinendes reagieren.
Solche Reaktionsmuster waren in unserer Kindheit nützlich und angebracht – immerhin haben sie uns geholfen, bis jetzt zu überleben – gleichzeitig können sie heute manchmal sehr hinderlich und unpassend sein. Besonders hartnäckig sind dabei die Schutzstrategien, die wir im frühkindlichen Alter entwickelt haben.
Eine erwachsene Reaktion wäre gelassen und souverän, vielleicht humorvoll, idealerweise auch empathisch. Letztendlich viel effektiver und kooperationsoffener.
Es lohnt sich jedes Mal, wenn wir uns über jemanden aufregen oder verletzt sind, genauer bei uns selbst hinzuschauen und uns zu fragen: woher kommt meine Reaktion? Was genau denke ich in dem Moment? Welche Gefühle liegen unter meinem Trotz, unter meinem Ärger? Oder unter meiner Erstarrung oder dem Nicht-Fühlen? Sehr wahrscheinlich sind dies Gefühle, die ich schon lange in mir trage, vielleicht schon seit der Kindheit. Enttäuschung, Traurigkeit und Hilflosigkeit. Angst. Vielleicht auch Einsamkeit und Verzweiflung.
Diese Gefühle wurden damals als Emotionen durch mein Gehirn genialerweise ins Unterbewusstsein verdrängt, weil sie mich überfordert und lebensunfähig gemacht hätten. Das ist ein wunderbarer Schutzmechanismus unserer Psyche. Die Emotionen werden unterdrückt, bis es irgendwann eine Möglichkeit gibt, sie aufzulösen. Und bis dahin reagiere ich mit Abwehr. Eine großartige Überlebensstrategie.
Während ich diesen Emotionen in mir nachspüre, sie wieder zulasse, anerkenne und benenne, sodass sie in mein Bewusstsein kommen können, kann ich mich fragen: mit welchen Bedürfnissen haben sie zu tun? Wovor habe ich Angst, was sehe ich bedroht, das mir wichtig ist? Was hat mir damals gefehlt und fehlt mir in dieser Situation vielleicht auch gerade wieder? Wahrscheinlich geht es um Bedürfnisse wie Zugehörigkeit, angenommen sein, berücksichtigt werden, verstanden werden.
Wenn ich an diesem Punkt angekommen bin und den Gefühlen und Bedürfnissen genug Aufmerksamkeit und Anteilnahme schenken konnte, wenn ich mich selbst damit annehmen kann, entspannt sich etwas in mir. Dann kann ich wieder „erwachsen werden“. Kann Verantwortung für mich übernehmen und mein Gegenüber mit Gelassenheit und neugieriger Empathie anschauen. Vielleicht sogar eine Verbindungsbitte stellen wie am Ende des oben erwähnten Briefes.
Jenseits von Richtig und Falsch – von Simran Wester
Jenseits von Richtig und Falsch gibt es einen Ort, dort begegnen wir uns. [Rumi | 1207-1273]
Wenn ich meine tägliche Portion Nachrichten konsumiere, wird es mir manchmal angst und bange. So viel Gewalt tobt auf der Welt und reißt immer tiefere Gräben, die immer unüberwindbarer scheinen. Ich kenne viele, die sich deswegen weigern, überhaupt Nachrichten zu lesen, zu hören oder zu sehen.
Das ist nicht mein Weg. Obwohl ich Manches erschreckend oder verwerflich finde, möchte ich wissen, wie es um uns steht. Ich suche auch gezielt nach Hoffnungsschimmern und guten Nachrichten. Und ich mag mich gerne immer wieder darauf besinnen, dass wir eine große Menschheitsfamilie sind, dass wir alle mit denselben Bedürfnissen ausgestattet sind und dieselben Gefühle kennen, dass sich jeder einzelne Mensch nach Frieden, guten Beziehungen, sinnvollem Beitragen und Heilung sehnt und es so gut macht, wie sie oder er nur kann – in dem Kontext, in dem dieser Mensch lebt, mit der Geschichte und mit den Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen.
Ich schaue mit Mitgefühl auf all die verschiedenen Akteure und versuche, ihre Menschlichkeit unter der manchmal sehr hässlichen Fratze, die sie als Maske tragen, zu entdecken. Mitgefühl bedeutet nicht Zustimmung – es kann sein, dass ich Handlungsmotive überhaupt nicht verstehe, dass Verhaltensweisen mir komplett fremd bleiben oder ich sie zutiefst ablehne. Auf den Menschen, der sich so verhält, möchte ich trotzdem mit Mitgefühl schauen – was muss dieser Mensch erlebt haben, um so geworden zu sein? Wonach sehnt er sich im tiefsten Inneren?
Marshall Rosenberg sagte, die Gewalt beginnt in unseren Köpfen. Die Art, wie wir gelernt haben, über andere und über uns selbst zu denken, macht es ganz leicht zu glauben, dass die angeblich schlechten Menschen Bestrafung verdienen und die angeblich guten Belohnung. Physische Gewalt und institutionelle Gewalt sind eine Folge dieser mentalen, psychischen Gewalt.
Nach Charles Eisenstein ist genau diese Einteilung in die Guten (wir) und die Bösen (die anderen), dieses Freund-Feind-Denken das eigentlich „Böse“ („The Evil Formula“ siehe Blog vom 8.4.2024). Er schreibt: „Das Narrativ von uns und denen, die im Recht und die im Unrecht, den Guten und den Bösen, vernichtet das Mitgefühl an seiner Quelle.“
Die Voraussetzung, um nachhaltigen Wandel hin zu einer humanen, friedlichen und gerechten Welt zu bewirken, ist eine Bewusstseinstransformation, schreibt Miki Kashtan 2015 in ihrem Buch „Reweaving our Human Fabric“. Wenn wir nur die äußeren Umstände verändern, ohne den Menschen die Gelegenheit zu geben, ihre alten Muster von gewaltvollem Denken aufzulösen und eine neue innere Haltung zu entwickeln, die von Mitgefühl und Liebe zum Leben geprägt ist, dann wird jede äußere Veränderung nur wieder dieselben Probleme in neuer Form hervorbringen.
Alle gewaltvollen Umwälzungen, Kriege, Revolutionen usw. die äußerlich viel verändert haben, haben die Gewalt nur auf andere Ebenen verlagert oder in neue Strukturen gegossen.
Wir brauchen eine grundlegende Veränderung der Art und Weise, wie wir auf uns selbst und auf andere schauen, die losgelöst ist von „richtig“ und „falsch“, von „gut“ und „böse“, von „Freund“ und „Feind“, damit Veränderungen nachhaltig werden.
Die Gewaltfreie Kommunikation ist der effektivste Weg, den ich bisher gefunden habe, um einen solchen inneren Wandel zu bewirken. Sie in die Welt zu bringen, erscheint mir als der sinnvollste Beitrag, den ich leisten kann – und es ist das, was mir am meisten Freude bereitet.
Ich freue mich darauf, in meinen Seminaren mit Euch zusammen diesen Wandel weiter zu erforschen und ihm Raum zu geben, damit er im Außen nachhaltige Früchte tragen kann.
Der erste Friede – von Simran Wester
Der erste Friede, der wichtigste, ist der, welcher in die Seele eines Menschen einzieht, wenn der Mensch seine Verwandtschaft, seine Harmonie mit dem Universum einsieht und weiß, dass im Mittelpunkt der Welt das große Geheimnis wohnt. Und dass diese Mitte tatsächlich überall ist; sie ist in jedem von uns. Dies ist der wirkliche Friede. Alle anderen sind lediglich Spiegelungen davon.
Der zweite Friede ist der, welcher zwischen einzelnen geschlossen wird.
Und der dritte ist der zwischen Völkern.
Doch vor allem sollt ihr sehen, dass es nie Frieden zwischen Völkern geben kann, wenn nicht der erste Friede vorhanden ist, welcher innerhalb der Seele wohnt. (Weisheit der Navajo)
Ein kleines Friedensritual
Setze dich vor eine brennende Kerze und schaue unverwandt mit weichem Blick in ihr Licht. Lass deinen Atem dabei sanft ein- und ausfließen und sei in dir präsent. Nimm mit wohlwollender Aufmerksamkeit alles wahr, was in dir auftaucht. Lass deine Urteile dazu los – es darf jetzt gerade alles mal so sein, wie es ist – und erlaube alle Gefühle, die sich dann zeigen. Verbinde dich mit dem, worauf deine Gefühle dich hinweisen, wonach du dich sehnst, und male dir aus, wie es wäre, wenn es voll und ganz gegeben wäre.
Wenn ich diese Meditation mache, taucht immer wieder die Sehnsucht nach Frieden auf, Frieden für die Menschen, die gerade Krieg und Elend erleben, und für die Natur, die an so vielen Orten so geschunden wird. Ich male mir dann aus, wie diese Menschen Frieden finden, wie sie heilen, sich liebevoll einander zuwenden und froh werden. Wie ihre Häuser und Gärten Orte des Glücks werden, wie ihre Dörfer und Städte voller friedlicher Lebendigkeit sind. Und wie die Natur sich erholen und gedeihen kann, neues Leben wächst, ihre ganze Schönheit und Würde sich wieder entfaltet, Frieden und Harmonie zurückkehren.
Manchmal wende ich mich auch innerlich den Menschen zu, bei denen es mir am schwersten fällt, sie in ihrer Liebenswürdigkeit zu sehen. Das Licht der Kerze hilft mir, auch sie in ein sanftes Licht zu hüllen. Ich schaue mit Mitgefühl auf sie, trauere um ihre Entfremdung von der Liebe und vom Leben. Ich erinnere mich daran, dass auch sie einst Kinder waren, die voller Erwartung darauf, geliebt zu werden und lieben zu können, ins Leben kamen und dann vermutlich bitterlich enttäuscht wurden und ihr Herz verschlossen haben. In meiner Vorstellung finden sie den Weg zurück in die Liebe und nutzen ihre Macht, um dem Leben zu dienen. Zumindest in mir macht das einen Unterschied, und wenn ich den Erkenntnissen über die "Kraft des Wir" folge, dann hat es auch Wirkung.
„Das Licht machte sich auf die Suche nach der Dunkelheit. Es konnte sie nirgends finden.“ (Quelle unbekannt)
Gefühle wollen gefühlt werden – von Simran Wester
Eine meiner ersten und wichtigsten Entdeckungen mit der GFK war, dass ich Bedürfnisse hatte und es okay war, sie mir zuzugestehen. Es war okay, dass ich Verständnis brauchte, es war wichtig, dass ich selbst über mich bestimmte, es war in Ordnung, dass ich Anerkennung brauchte. Was für ein großartiges Geschenk!
Allerdings war ich dann gleich so fasziniert und begeistert davon, dass ich meine Gefühle lange Zeit wenig beachtete. Mir kam es tatsächlich so vor, als hätte ich nur ganz selten Gefühle, eigentlich nur, wenn ich weinte oder wenn ich mich freute. Normalerweise bemerkte ich sie nicht, sondern lenkte meine Aufmerksamkeit gleich auf meine Bedürfnisse. Mir meine Gefühle einzugestehen und sie wirklich zu fühlen, war noch ein recht langer Weg.
Irgendwann habe ich entdeckt, dass ich in einer Auseinandersetzung meine Gefühle ansprechen konnte, anstatt weiter Argumente vorzubringen, selbst wenn ich noch nicht genau wusste, welche Bedürfnisse damit zusammenhingen*. Meistens waren das dann heftige Gefühle wie Traurigkeit, Enttäuschung, Ratlosigkeit – es war hilfreich sie anzusprechen, weil ich damit für mein Gegenüber offenbar präsenter, fühlbarer, nachvollziehbarer wurde.
An Wut habe ich mich jedoch lange Zeit nicht herangetraut, obwohl sie sich ihren Weg dann oft als kalter Sarkasmus gebahnt hat, was gar nicht hilfreich war.
Allmählich erkenne ich, dass ich ständig Gefühle habe! Sie begleiten in irgendeiner Form alle meine Gedanken. Und ich freunde mich allmählich mit ihnen an, entscheide mich bewusst, sie nicht einfach „wegzumachen“, sondern im Gegenteil: genau in mich hineinzuspüren, ihnen Raum zu geben und sie immer besser kennenzulernen.
Ein paar Beispiele. Ich sehe einen penibel von Unkraut befreiten, millimeterkurz geschnittenen, leeren Vorgarten, wo hübsche wilde Gräser und Blumen wachsen könnten, und ich denke „wie scheußlich“. Ich fühle: Traurigkeit, und auch Hilflosigkeit. Ich denke: „Ja, ich bin traurig, ich bin hilflos“. Jemand fragt mich zum dritten Mal dieselbe Sache, und ich denke „du hörst nicht zu!“, und ich fühle: Ungeduld, Genervtsein. Ich denke: „Ja, ich bin ungeduldig, ich bin genervt“. Jemand verhält sich anders, als ich es gerne hätte, und ich denke „Menno, kannste nicht mal …“ und ich fühle: Irritation, Ärger. Ich denke: „Ja, ich bin irritiert, ich bin ärgerlich“.
Dieser letzte Schritt, mir meine Gefühle ins Bewusstsein zu holen, indem ich sie in meinen Gedanken ausspreche, das ist neu. Es bringt immer eine unmittelbare Erleichterung und holt mich aus der unbewussten Verschmelzung mit ihnen heraus. Inzwischen denke ich dann auch manchmal, ah, da bist du wieder, meine Traurigkeit, oder meine Ungeduld, ich lern dich immer besser kennen.
Mir die Gefühle bewusst zu machen, sie aufmerksam zu fühlen und sie nicht nur als ein (manchmal lästiges) Beiwerk oder notwendige Botschafter meiner Bedürfnisse zu sehen, ermöglicht mir, auf eine neue Weise präsent zu sein. Ich brauche meinen Gefühlen auch gar keinen Ausdruck zu geben – das ist ja manchmal nicht hilfreich – es geht einfach nur darum, sie wirklich wahrzunehmen. Sie sind der fühlbare Ausdruck meiner Lebendigkeit. Wenn ich damit stillhalte und weiteratme, tun sich neue Wege auf.
Gefühle wollen gefühlt werden. Wir sind schließlich fühlende Wesen. „Ich fühle, also bin ich.“
Es gibt noch so viel zu entdecken, zu erforschen, zu erleben! Auch die Wut.
* Nach Marshall Rosenberg hängen unsere Gefühle unmittelbar mit unseren Bedürfnissen zusammen, sie informieren uns über deren Zustand. Gefühle sind kein Selbstzweck.
Wir können unsere Gefühle nur deswegen wahrnehmen, weil sie immer eine körperliche Komponente haben. Daher braucht es eine Hinwendung zu dem, was wir in uns spüren, um unsere Gefühle benennen zu können. Viele von uns haben in der Kindheit verlernt, die Gefühle wahrzunehmen, weil wir mit deren Ausdruck oft nicht willkommen waren oder weil wir mit ihnen alleingelassen wurden. Selbstwahrnehmung ermöglicht uns authentischen Selbstausdruck und eine bessere Selbstfürsorge.
Stress lass nach! – von Simran Wester
Eine Seminarteilnehmerin erzählt: „Manchmal schaffe ich es einfach nicht, bei all dem Stress auch noch empathisch zu sein, dann will ich nur noch, dass alles klappt und alle funktionieren, wie sie sollen, und das lasse ich dann auch sehr klar alle wissen. Und dann gibt es Tränen oder die Türen knallen, und ich denke mal wieder, ja super, jetzt habe ich es mal wieder so richtig verbockt. Die GFK steht mir dann komplett nicht zur Verfügung. Was mach ich nur?“
Wir kennen es alle – wenn wir unter Druck stehen, wenn die Zeit uns davonrennt, wenn wir einen Schreck zu verarbeiten haben oder uns bedroht sehen, dann halten wir den Atem an oder kriegen Schnappatmung, und unser Fokus verengt sich beträchtlich. Der Körper ist in Alarmbereitschaft versetzt, der Puls und der Blutdruck erhöht, und gleichzeitig ist unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen, Mitgefühl zu empfinden und das Ganze im Blick zu behalten, drastisch eingeschränkt.
Es ist eine uralte neurologische Reaktion auf bedrohlich Erscheinendes, die uns helfen soll, schnell eine Lösung zu finden, die uns aus der brenzligen Situation befreit, oder zumindest, sie unbeschadet zu überstehen und schnell reagieren zu können. Toll, dass unser autonomes Nervensystem uns so umfassend unterstützt. Gelegentlicher Stress ist nicht schlimm, er kann sogar unsere Lebensgeister wieder wecken.
Unser Nervensystem ist allerdings mit dem Dauerstress unserer schnell-lebigen Zeit und ihren vielen, rasch aufeinander folgenden Reizen und Anforderungen ziemlich überfordert, und dann werden die Stressreaktionen ungesund und hinderlich. Runterfahren kann schwierig werden, selbst, wenn eine erhöhte Alarmbereitschaft nicht erforderlich ist. Die gesundheitlichen Auswirkungen sind bekannt.
Weniger bekannt ist, dass Stress uns eben leider auch ganz praktisch und physiologisch daran hindert, unseren Liebsten und überhaupt anderen Menschen gegenüber rücksichtsvoll, zugewandt und achtsam zu sein. Das geht nur, wenn wir entspannt und gelassen sind, wenn unser Nervensystem durch Kuschelhormone wie Oxytocin gestreichelt wird und nicht durch Adrenalin und Co aufgepeitscht wird.
Was viele tun, um sich von dieser Daueranstrengung abzulenken, ist, bei jeder Gelegenheit aufs Handy zu schauen – was gibt es Neues, oder eben schnell ein Spielchen. Eine unbewusste Fluchtreaktion, die nichts verändert, sondern den Zustand eigentlich festigt. Aussteigen aus der Anspannung, das Nervensystem beruhigen und wieder ganz entspannt im Hier und Jetzt sein ist dadurch nicht möglich.
Zwei Dinge gibt es, über die wir unmittelbar Einfluss auf unser ansonsten nicht willentlich beeinflussbares Nervensystem nehmen können, um gezielt den Stress abzubauen. Unseren Atem und unseren Augenfokus.
In einem wissenschaftlichen Artikel* habe ich kürzlich darüber gelesen, wie der lange Aus-Atem dazu beiträgt, ähnlich einem Seufzer, über die Bewegung des Zwerchfells das Nervensystem auf Entspannung umzuschalten, insbesondere, wenn er von ein paar stoßweisen Ein-Atemzügen begleitet wird.
Und wie ebenso der bewusste, schweifende Blick in die Ferne ein Signal der Beruhigung an unsere Schaltzentren im Gehirn sendet.
Ich musste ein bisschen schmunzeln. Beides sind Techniken, die wir im Kundalini Yoga kennen und üben. Z.B. in acht kleinen Schritten einatmen, in einem langen Atemzug ausatmen, 11 Minuten lang. Oder ein paar Minuten lang langsam und tief zu atmen und dabei den Blick in weite Ferne wandern lassen, vielleicht auch nur in vorgestellte Ferne, mit geschlossenen Augen. Der Punkt ist natürlich, im entscheidenden Moment daran zu denken. Wenn der Zeitdruck wächst, wenn wir anfangen, flach zu atmen und uns hektisch zu bewegen, wenn irgendetwas das Fass zum Überlaufen bringen könnte, dann zu merken, oha, jetzt ist Atmen angesagt. Am besten Mund zu und lang und tief durch die Nase atmen (dann sagst du schonmal nichts, was du später bereust). Sehr selten verträgt eine Situation eine Verlangsamung und ein Innehalten nicht, in den meisten Fällen ist es ein Gewinn. Wir kommen wieder mit uns selbst in Verbindung und dadurch auch leichter mit den Menschen um uns herum.
Auch hier gilt, wie bei der Überwindung aller alten Muster: üben, üben, üben. Am Anfang steht vielleicht eine entscheidende Erfahrung, und die können wir bewusst entstehen lassen – z.B. im geschützten Rahmen eines GFK-Seminars.
Transgenerationales Gepäck – von Simran Wester
Bei einer Versuchsanordnung wurde ein Korb mit Bananen für eine Gruppe Affen so aufgehängt, dass immer nur einer auf die Leiter konnte, über die der Korb zu erreichen war. Zunächst konnten die Affen sich dort ungehindert bedienen. Nach einer Weile wurde aber jedes Mal, wenn ein Affe die Leiter erklomm, ein kalter starker Wasserstrahl auf ihn abgeschossen, so dass die armen Affen bald auf die Bananen verzichteten.
Diese Anordnung blieb so, und es war allen Affen klar, dass das Erklimmen der Leiter unangenehme Folgen hatte. Als einige Affen aus der Gruppe ausgewechselt wurden, wurde auch den Neuen signalisiert, dass sie nicht auf die Leiter klettern sollten. Bald waren alle Affen ausgewechselt, und obwohl keiner der jetzt zur Gruppe gehörenden Affen die Erfahrung gemacht hatte, von dem kalten Wasserstrahl getroffen zu werden, hat keiner es wieder versucht, die Leiter zu erklimmen, um an die Bananen zu kommen.
In diesem Fall wurde die Reaktion persönlich weitergegeben, es gibt aber auch andere Versuche, bei denen es sich gezeigt hat, dass solche Schutzreaktionen offenbar genetisch bzw. epigenetisch weitergegeben werden.
Was hat diese Geschichte mit der GFK zu tun?
Das Gehirn merkt sich bekanntlich Lösungen, nicht Probleme. Das scheint bei Affen auch so zu sein, wir haben es also vermutlich von ihnen geerbt. Diese Affen haben sich die Lösung für ihr Bedürfnis nach Schutz und körperlicher Unversehrtheit gemerkt – und auch an andere weitergegeben, die vom ursprünglichen Problem nichts wussten. Die Angst vor dem Erklimmen der Leiter wurde Teil dieser Affenkultur.
So haben auch wir vermutlich zahlreiche „Erfolgsstrategien“ von unseren Eltern und Vorfahren übernommen, die in deren Leben, unter den damaligen Bedingungen, Sinn machten - und heute zusammenhanglos scheinen. Es ist wie transgenerationales Gepäck, das uns für alle Fälle rüsten soll. Natürlich gibt es auch Lösungen, die wir selbst gefunden oder entwickelt haben, für Nöte und Probleme, die uns in der Kindheit begegnet sind, z.B. sich nichts anmerken zu lassen, sich unterzuordnen, oder, im Gegenteil, niemals die Kontrolle aus der Hand zu geben. Diese Lösungen waren damals hilfreich für uns, und sie liegen unseren jetzigen Glaubenssätzen zugrunde, auch wenn sie heute sehr einschränkend und hinderlich sein können. Und doch gibt es manchmal Ängste in uns, Verhaltensweisen, Reaktionen, die wir auch mit Blick auf unsere Kindheit nicht gut einordnen können. Sie scheinen nicht zu uns zu gehören.
Dann lohnt sich ein Blick auf die Lebensumstände unserer Eltern und Vorfahren – stammt die Existenzangst, die instinktive Ablehnung von Fremdem („gefährlich!“) oder die Unfähigkeit, die eigenen Gefühle wahrzunehmen, vielleicht aus deren Kontext? Haben wir ihre Lösungen (z.B. Sicherheit hat oberste Priorität, bleibe bei Altbekanntem, Fühlen wirft dich nur aus der Bahn, also funktioniere und schau nach vorne) unbewusst übernommen, weil wir sie quasi mit der Muttermilch aufgesogen haben?
Der Weg in die innere Freiheit von solchen Vorgaben geht über Selbst-Mitgefühl und Mitgefühl für unsere Eltern und Vorfahren. Zu würdigen, dass alle ihr Bestes getan haben und tun, um unter den gegebenen Umständen so gut wie möglich klarzukommen, ist der erste Schritt. Mir hilft es, mir genau bewusst zu werden, um welche Bedürfnisse es jeweils geht, und mich dann gezielt für diese Bedürfnisse einzusetzen. Sie anzuerkennen entspannt allerdings auch schon etwas in mir, und beim nächsten Mal, wenn eine solche Reaktion in mir auftaucht, fällt es mir schon leichter, freundlich darauf zu schauen und zu sagen: ah ja, da bist du wieder, so langsam lerne ich dich kennen, du bist ein Geschenk meiner Vorfahren und willst mich vermutlich warnen. Okay, ich behalte dein Anliegen im Blick – und ich schau mal, was ich jetzt mache, ich übernehm jetzt mal wieder das Steuer. Und dann erstmal tief durchatmen …
Die Arbeit mit inneren Anteilen, Glaubenssätzen und kindlichen Überlebensstrategien kommt nicht nur uns selbst zugute, sondern wirkt sich auch heilsam auf unsere Umgebung und letztlich auf die Generationen nach uns aus. Sie erscheint mir zutiefst sinnvoll und befriedigend (auch wenn sie sehr aufwühlend sein kann).
Wenn ich erlebt hätte, was du erlebt hast ... – von Simran Wester
Mein Eindruck ist, dass viele Menschen – zumindest in Europa - sich dieser Tatsache nicht bewusst sind, weil sie sich vor allem mit ihrem Verstand identifizieren. Dadurch ist Rechthaben und sich Behaupten enorm wichtig. Mitgefühl und ein ganzheitlicher Blick auf das Leben spielen eine untergeordnete Rolle. Es wird gestritten, die Wissenschaft wird für alle möglichen Argumente zitiert, Andersdenkende werden abgelehnt. Wie anders könnte unsere Welt aussehen, wenn wir uns daran erinnern, dass wir auf dieser ursprünglichen Ebene alle eins sind, jede und jeder von uns eine Manifestation des Unfassbaren.
Es gibt eine Übung in der Gewaltfreien Kommunikation, die auf diesem Verständnis aufbaut. Für mich ist es eine zentrale Übung, weil sie an die Spiritualität der GFK erinnert, an die Haltung, mit der wir auf uns selbst und auf andere schauen.
Die Übung geht so:
Setzt oder stellt euch zu zweit einander gegenüber, vielleicht hat erst die eine, später der andere die Augen geschlossen, zuletzt haben beide die Augen offen und ihr schaut euch an.
Bevor und während du auf dein Gegenüber schaust, spüre dein Herz und verbinde dich mit dem Ort tief in dir, an dem du einfach nur du selbst bist, Bewusstsein. Und schau, ob du dich mit dem Selbst deines Gegenübers verbinden kannst, wer dieser Mensch wirklich ist, tief drinnen, unter all den Schichten.
Vielleicht stellst du dir vor, wie dieser Mensch wohl als Kind war. Und vielleicht nickst du ihm zu, wenn du es dir vorstellen kannst.
Und dann sagt in Gedanken zueinander:
„Wenn ich erlebt hätte, was du erlebt hast, wenn mein Leben so gelaufen wäre wir deins, würde ich denken und fühlen wie du.“
Vielleicht wiederholt ihr das noch einmal, vielleicht erst der eine, dann die andere.
Und dann schließt eure Augen wieder und lasst das Erlebte nachklingen.
Drachen und andere innere Zustände – von Simran Wester
Neulich war es mal wieder so weit. Der einzige Mensch in meinem Leben, der das Privileg hat, meine Wut abzubekommen, hatte etwas gesagt bzw. etwas nicht gesagt, was ich anders erwartet hatte, und ich glitt immer tiefer in ein dunkles Loch in mir. Eisiges Schweigen, dann schneidend sarkastische Worte. In mir war ein kalter, harter Wutklumpen und lauerte auf jede Äußerung, die ich hörte, um sie mit einer verächtlichen Bemerkung niederzumachen. So viel Verletztheit, Enttäuschung und Wut, zusammengeballt und erstarrt, und ich kam nicht mehr von ihr los. Andere Stimmen in mir scharten sich besorgt um diesen giftsprühenden Drachen und versuchten vorsichtig, Vorschläge zu machen, was ich tun könnte, um aus dieser Falle wieder herauszukommen: vielleicht nichts mehr sagen? Vielleicht nur noch wiedergeben, was ich gehört hatte und nicht darauf reagieren? Vielleicht, ganz vielleicht, die Schleusen öffnen und weinen? Oder atmen? Der Drache ignorierte sie alle und verbiss sich immer fester in jeden Brocken, den ihm mein Lieblingsmensch hinwarf oder anbot. Er total hilflos, ich total hilflos.
Als ich schließlich einen Moment allein war, fehlte plötzlich das Gegenüber, auf das sich die ganze Wut richten konnte. Was jetzt? Ein klarer Impuls meldete sich in die plötzliche Stille hinein: Los! Feueratem! Es gelang mir, reflexhaft, eine Minute lang Feueratem zu machen, eine kräftige, schnelle, vom Bauch ausgehende Atmung, die ich schon viele tausend Male in Kundalini Yoga Übungen praktiziert hatte. Verbissen atmete ich in schnellem Rhythmus, das schien mir sehr passend. Wenn mein Lieblingsmensch in dem Moment nicht wieder zurückgekommen wäre, hätte ich das vermutlich noch länger gemacht (aber er durfte das auf keinen Fall mitbekommen, es hätte ja wie ein Zugeständnis aussehen können …) und es hätte vermutlich dazu beigetragen, dass ich aus dem Loch herausgekommen wäre und mich endlich beruhigt hätte.
Aber so weit war ich nach der einen Minute noch nicht. Ich war immer noch im Bannkreis dieses Drachens. Immerhin versprühte er kein Gift mehr, sondern überließ es anderen, weniger aggressiven Kumpeln, die Abwehr zu halten, mit Schweigen, Ein-Wort-Sätzen und Rückenzudrehen. Irgendwann schafften wir eine Art Burgfrieden, und es dauerte dann tatsächlich noch zwei Tage, bis wir uns wieder herzhaft in den Arm nehmen konnten und zu unserer normalen heiteren Gelassenheit zurückkehren konnten.
Puh, was für ein Drama. Immerhin erkenne ich allmählich, dass der Drache schon lange in mir ist und nicht wirklich mein höchstes Selbst repräsentiert. Früher habe ich ihn nicht erkannt, sondern habe geglaubt, dass ich halt im Recht bin und es diesem Lieblingsmenschen nur mit meiner ganzen Schlauheit klarmachen muss. Wahnsinnig anstrengend und sehr frustrierend. Inzwischen weiß ich, dass der Drache einen kostbaren Schatz bewacht: die kleine Prinzessin, die ich früher einmal war, die sich immer noch so sehr nach mitfühlender Zuwendung und Geborgenheit sehnt. Im Grunde ist der Drache wirklich ein treuer Wächter, der seit vielen Jahrzehnten aufpasst, dass der Kleinen nichts passiert. Ich werde den beiden mal ein paar Besuche abstatten und auch sie in mein Herz holen, wo schon einige „Geschwister“ der Kleinen untergekommen sind. Ich weiß, welch großen Unterschied das machen kann.
Nix muss – von Simran Wester
Als ich etwa 25 Jahre alt war, ist mir ein Buch in die Hände gefallen, das mich sehr beeindruckt und geprägt hat: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück von Jean Liedloff. Die Autorin war ein Jahr lang bei den Yanomami in Venezuela unterwegs und erzählt in dem Buch von ihren Beobachtungen über deren Zusammenleben. Eine Geschichte darin ist mir wieder eingefallen, als wir neulich über die Frage gesprochen haben, wie sehr uns das „Muss“ im Kopf einschränkt und am Glücklichsein hindert. Es bremst unsere natürlichen Impulse aus, bereichernd beizutragen und uns mit Freude einzubringen. Und es hindert uns daran, wirkliche Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.
Die Geschichte geht so:
Ein Mann, der als Kind von katholischen Missionaren seinen Eltern weggenommen und in ein Kinderheim getan worden war, kehrt als Erwachsener in sein Heimatdorf zurück. Er hatte noch ein paar Jahre unter den Weißen gelebt und dort als Tagelöhner gearbeitet. Als er einigen Menschen aus seinem Heimatdorf begegnete, luden sie ihn ein, mit ihnen zusammen zurückzukehren. Ihm werden eine Hütte und eine Hängematte zur Verfügung gestellt, und er wird täglich mit Essen und allem versorgt, was er braucht. Er legt sich in die Hängematte und verbringt den größten Teil seiner Zeit dort, jahrelang. Die Dorfbewohner erklären: das braucht er, er muss sich erholen, er war so lange weg von seinen Wurzeln. Seine Seele muss zurückfinden. Für sie ist es selbstverständlich, dass sie ihn versorgen und nicht verlangen, dass er sich an den anfallenden Arbeiten beteiligt. Nach sieben Jahren fängt der Mann allmählich an, ebenfalls ein kleines Feld zu beackern, und sich an den gemeinschaftlichen Tätigkeiten zu beteiligen. Etwas in ihm konnte heilen, und er kann endlich das tun, was er von sich aus tun möchte, endlich ist er frei von Erwartungsdruck und Pflichtbewusstsein.
Diese innere Freiheit wünsche ich uns allen, ich empfinde sie als unendlich kostbar und aufrichtend. Ohne das „Muss“ im Kopf kommen wir in unsere Selbstverantwortung und finden zu unserer ursprünglichen Würde zurück. Es gibt einen kleinen „Trick“ dazu: Jedes „ich muss“, welches du dich sagen oder denken hörst, verwandle in ein „ich möchte“, und dann schau gründlich, ob es noch stimmt. Wenn es nicht stimmt, tu es nicht. Nix muss.
Empathie vor Erklärung – von Simran Wester
Manchmal mache ich etwas, was ich mir schon lange abgewöhnen will, weil ich weiß, dass es andere sehr irritieren kann. Ich mag es ja auch nicht, wenn andere sich mir gegenüber so verhalten.
Neulich war es wieder so weit. Ich saß mit einer Freundin zusammen, die mir davon erzählte, wie sie auf ein bestimmtes Ereignis reagiert hat, und ich bin ihr ins Wort gefallen und habe den Satz für sie fertig formuliert. „Lass. Mich. Ausreden!“ war ihre prompte Reaktion. Sofort war ich still – und eingeschnappt. Sie fuhr fort damit, dass sie mir erklärte, warum es für sie so schwer auszuhalten war, auf diese Weise unterbrochen zu werden. Ich wollte gerade ansetzen, mich zu verteidigen, dass ich doch keine böse Absicht gehabt hätte und dass in mir sofort eine Panik losgehe, wenn sie mich – in meinen Ohren - so aggressiv zurückweise. Zum Glück habe ich das nicht getan, sondern stattdessen das, was ich in meinen Kursen für solche Momente immer wieder empfehle: Mund zu und tief durchatmen. Sofort wusste ich, diesmal wird daraus kein Streit mit Rechtfertigungshickhack, der sich anschließend in tagelangem Schweigen oder Eiseskälte fortsetzen würde.
Mit klopfendem Herzen habe ich ihr versucht wiederzugeben, was ich von ihr verstanden hatte: dass sie es als Kind schon schwer hatte, gehört zu werden, die anderen hätten ihr keinen Raum gelassen, und dass es ihr wichtig sei, ihren Raum einzunehmen und für sich zu sprechen. Und ob ich das so in etwa richtig verstanden hätte. „Ja, und ich weiß, dass ich das manchmal zu heftig rüberbringe, das tut mir auch leid“, war ihre Antwort. Und dann konnte ich ihr erklären, was ihre Reaktion in mir ausgelöst hatte und wie es überhaupt zu meinem Dazwischenreden gekommen war, und wie leid es mir tat, dass ich in solchen Momenten manchmal nicht die Achtsamkeit ihr gegenüber hätte, wo ich doch wüsste, dass sie das nicht ausstehen könne.
Puh, das Gewitter hatte sich verzogen. Wir waren beide erleichtert und konnten zu dem zurückkehren, wo wir ausgestiegen waren. Ich feiere immer noch, dass es mir diesmal gleich gelungen ist, nicht auf dem alten Schmoll-Gewohnheitsgleis weiterzuschlittern.
Wie kostbar die kleine Einsicht aus der Gewaltfreien Kommunikation doch ist: Empathie vor Erklärung! (und wie lange es dauern kann, bis sie sich gegen alte Gewohnheiten durchsetzt ...) In vielen Konfliktschlichtungswegen und Versöhnungsritualen spielt diese Einsicht eine wichtige Rolle. Unsere Empathie-Fähigkeit ist letztlich das, was Gemeinschaft ermöglicht und erhalten kann. Gerade in Zeiten, in denen tiefe Meinungsgräben und Angst-basierte Verhaltensweisen unsere Gemeinschaften erschüttern oder lähmen, kann Empathie ein wohlwollendes Miteinander zurück bringen.
Aber es kam der Tag, an dem er erstmals einen Kampf verlor. Gedemütigt und voller Zorn gegen sich selbst und gegen den Rest der Welt wollte er seinem nun scheinbar unwürdigen Leben ein Ende bereiten. Er ging die staubige Landstraße entlang und dachte darüber nach, wie er sich am grausamsten und auffälligsten umbringen könnte.
Plötzlich sah er vor sich auf dem Weg etwas liegen. Er blieb stehen und erkannte, dass es ein kleiner Spatz war. Dieser lag auf dem Rücken und streckte seine winzigen Füßchen zum Himmel.
Der Samurai, der wegen des Vogels aus seinen Gedanken gerissen worden war, schrie den Spatz an: „Geh mir aus dem Weg, du nichtsnutziges Federvieh!“
Der Spatz aber antwortete: „Nein, lieber Samurai, das werde ich nicht tun. Ich habe eine große Aufgabe zu verrichten.“
Der Samurai war ganz überrascht und erstaunt über die selbstbewusste Antwort des Vogels. Er beugte sich zu dem Spatzen hinunter und fragte: „Verrat mir, was so wichtig ist, dass du mir den Weg nicht freimachen willst?“
„Oh“, sagte der Spatz, „man hat mir gesagt, dass heute der Himmel auf die Erde fallen wird. Und deshalb liege ich nun hier. Ich werde ihn mit meinen Füßen auffangen.“
Als der Samurai dies hörte, fing er an zu lachen. Prustend rief er: „Was? Du kleines Federknäuel willst mit deinen dürren Beinchen den Himmel auffangen?“
Der kleine Spatz erwiderte sehr ruhig und ernst: „Tja, man tut was man kann!“
Zuhören – von Simran Wester
Nachdem wir angefangen hatten zu versuchen, gewaltfrei miteinander zu reden – mit Ich-Botschaften und unsere Bedürfnisse ansprechend -, standen mein Mann und ich uns einmal in einem Streit gegenüber und sagten mit forderndem, vorwurfsvollem Ton zueinander: „Ich brauche jetzt Einfühlung!“ „Ich auch!“
Wie es weiter ging, weiß ich nicht mehr, nur noch, dass das überhaupt nicht geholfen hat.
Wenn ich mich jetzt an die Szene erinnere, fällt mir ein Satz von Marshall Rosenberg ein:
„Ich würde von einem Menschen, der verletzt ist, nicht erwarten, dass er mich anhört, solange er nicht den Eindruck hat, dass ich die Tiefe seines Schmerzes verstanden habe.“
Diese Klarheit hatten wir damals beide nicht ...
Solange wir verletzt sind, können wir nicht gut zuhören. Wir haben in unserem Herzen keinen Platz für die Not eines anderen Menschen, schon gar nicht für die desjenigen, dessen Verhalten uns verletzt hat. Wir brauchen es, mit unserem Schmerz gehört zu werden. Unsere in Bedrängnis geratenen Bedürfnisse brauchen es, erkannt und anerkannt zu werden. Zumindest durch uns selbst, und am besten durch diese andere Person.
Und wenn das Herz dieser Person ebenfalls zu ist, weil sie auch verletzt ist?
Dann braucht es vielleicht eine dritte Person, die unvoreingenommen und mitfühlend zuhört, damit die Bereitschaft wächst, das Herz wieder zu öffnen und das Vertrauen wieder wachsen zu lassen.
Richtig kompliziert kann es werden, wenn noch weitere Menschen betroffen sind, ganze Familien, Betriebe oder Gemeinschaften. Dann können ein klarer Rahmen und klare Redevereinbarungen den Raum bieten, dass tiefes Verstehen und echte Versöhnung stattfinden kann.
Die Verständigungskreise der Restorative Circles sind ein solcher institutionalisierter Weg, wie Menschen auf nachhaltige Weise wieder zueinander finden können. Begleitet durch zwei Facilitators, zwei Kreisbegleiter*innen, findet eine ganz neue, tiefe Qualität des Zuhörens und des Verstehens statt. Die Versöhnung, die am Ende entsteht, tut der ganzen Gemeinschaft gut.
Pseudo-Gefühle – von Simran Wester
Eine Paartherapeutin wird in einem Interview mit folgendem Satz zitiert: „Es ist auch immer schön zu sehen, wie Paare Kurse in Gewaltfreier Kommunikation machen und dann diese Regeln als Waffe im Streit einsetzen. Sie sagen dann: Ich habe das Gefühl, dass du mich hier demütigen willst. Das ist keine Ich-Botschaft, das ist kein Gefühl, das ist ein Vorwurf.“
Sie hat natürlich Recht, das ist ein Vorwurf – ein sogenanntes Pseudo-Gefühl. Und das als Waffe zu benutzen, ist auch nicht GFK, sondern Pseudo-GFK. Es bewirkt das Gegenteil von dem, worum es in der GFK geht.
Was ist das Problem mit Pseudo-Gefühlen? Sie enthalten zwar das Wort Gefühl („ich habe das Gefühl, dass…“, oder „ich fühl mich + (die Passiv-Form eines Verbes)“), und damit soll klar gemacht werden: das ist doch die Wahrheit, das ist doch mein Gefühl, das kannst du mir nicht ausreden! Es bezeichnet aber kein Gefühl, sondern eine Interpretation oder eine Vermutung, manchmal eine Unterstellung. Wir machen damit nur scheinbar eine Aussage über uns selbst und verhindern die Verbindung zu unserem Herzen (auch für uns selbst).
Wenn wir stattdessen unsere wirklichen Gefühle ausdrücken (am besten zusammen mit den betroffenen Bedürfnissen und einer Bitte), hätte die angesprochene Person eher die Möglichkeit, mit uns in Resonanz zu gehen und dadurch eine Verbindung herzustellen. Im Fall des von der Therapeutin erwähnten Satzes wäre das so etwas wie „Wenn du das sagst, denke ich, dass du mich demütigen willst und bin traurig, weil ich es brauche, angenommen zu werden, wie ich bin. Kannst du das verstehen?“. Das Gefühl der Traurigkeit kennt jeder, das Bedürfnis nach Akzeptanz ebenfalls, damit kann man sich verbinden.
Wenn das Pseudo-Gefühl einen direkten Bezug zu der angesprochenen Person herstellt – z.B. „ich fühle mich von dir gedemütigt“ – wird es ein Vorwurf und enthält die Forderung, dass die andere Person sich ändern soll. Sie wird dann sehr wahrscheinlich anfangen sich zu verteidigen und vielleicht einen Gegenangriff starten. Bestimmt wird sie sich nicht mit uns verbinden wollen.
Was tun? Statt „Ich habe das Gefühl, dass…“ zu sagen: „Ich habe den Eindruck, dass…“ oder „Ich denke, dass….“, und statt „Ich fühle mich (+ passive Form eines Verbes)“ zu sagen: „Ich bin (+Gefühl)“. Manchmal ist es doch hilfreich, auf Formulierungen zu achten.
Zur Unterscheidung von Gefühlen und Pseudo-Gefühlen gibt es hilfreiche Listen – z.B. im Taschenkarten-Faltformat. Wer ein paar solche Kärtchen geschickt bekommen möchte, kann mir gerne einen frankierten Rückumschlag schicken an:
Hamburger Institut für Gewaltfreie Kommunikation, Breitenfelder Str. 8, 20251 Hamburg.
Herausbitte – von Simran Wester
Ich habe dieses Wort neu gelernt. Wenn ich etwas als Herausforderung empfinde (und davon gibt es ja für uns alle gerade eine ganze Menge), und mich dann an meine Souveränität erinnere, kann ich daraus eine Herausbitte machen, eine Einladung, und schon löst sich in mir die Anspannung, die immer entsteht, wenn ich ein „Muss“ denke. Ich muss gar nichts, ich kann mich für alles entscheiden – oder dagegen. Meine innere Freiheit ist mir kostbar. Ohne sie hätte ich keine Souveränität in meinem Leben.
Marshall Rosenberg sagte: „Gib niemandem und nichts die Macht, dich in die Unterwerfung oder die Rebellion zu zwingen.“ Keinem Corona-Virus, keiner Politiker*in, keiner Existenzbedrohung, keiner Anfeindung.
Für mich heißt die Herausbitte in diesen Tagen, gelassen zu bleiben angesichts sehr widersprüchlicher Informationen zur C-Krise; die gute Absicht zu erahnen hinter ungebetenen Ratschlägen oder die Not hinter Vorwürfen; meine Kreativität zu entfalten, wenn alte Wege blockiert sind. Wenn ich all das weiter als Herausforderung ansehen würde, wäre ich bald sehr niedergeschlagen oder wütend. Den Weg zu meiner Souveränität freizuschaufeln ist täglich meine wichtigste Herausbitte.
Was ist die Herausbitte für Dich?
Gehorsams-Verletzte – von Simran Wester
Wo kommt die Gewalt her, die sich im menschlichen Miteinander immer wieder zeigt? Wie kann es angehen, dass Menschen andere, die ihnen wehrlos ausgeliefert sind, abweisend und Mitgefühls-los behandeln? Antworten auf diese Frage zu finden und Wege aufzuzeigen, wie diese Gewalt überwunden werden kann, war für Marshall Rosenberg eine wichtige Motivation, zunächst Psychologie zu studieren und dann auf der Basis der Humanistischen Psychologie nach Carl Rogers die Gewaltfreie Kommunikation zu entwickeln.
Was es braucht, um Menschen so zu verformen, dass ihre Mitgefühlsfähigkeit verkümmert oder unterdrückt wird, hat auch der Psychologe und Schriftsteller Arno Gruen in vielen Vorträgen und Texten veranschaulicht, und sie ergänzen und bestätigen, was mir durch die Auseinandersetzung mit der Gewaltfreien Kommunikation und (unter anderem) durch die Lektüre von Alice Millers Büchern und Gerald Hüthers Vorträgen bewusst geworden ist.
Je mehr ein Kind gezwungen wird, gehorsam zu sein und seinen eigenen Willen zu verleugnen, zu unterdrücken und als falsch zu verstehen, wenn es also lernt, sich dem Willen der Erwachsenen zu unterwerfen, ihn zu seinem scheinbar eigenen zu machen und alles Eigene als unwert zu betrachten, umso mehr wird es als Erwachsener alles Fremde, Andersartige, Neue und Schwächere ablehnen, verachten und bekämpfen. Es bekämpft damit weiterhin genau diese Anteile in sich, die es nie kennenlernen durfte und denen es daher nicht vertrauen kann.
Aus schierer Überlebensnotwendigkeit macht es sich die Sichtweise dieser Erwachsenen und schließlich jeder Autorität zu eigen, die Unterwerfung verlangt. Im Prinzip ist es das sogenannte Stockholm Syndrom, das in tausendfacher Wiederholung in den Kinderzimmern autoritärer Familien stattfindet – die tragische Identifizierung des Opfers mit den Tätern. Das wirklich Tragische daran ist die heftige Gewalt, die es braucht, um ein Kind dermaßen zu zerbrechen. Diese Gewalt zeigt sich dann wieder in Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und allen Formen von Mobbing. In der Kaltblütigkeit von Abschiebegesetzen und der würdelosen Behandlung von z.B. Langzeitarbeitslosen.
Kürzlich wurde ein Linken-Politiker, der zu einer Demo am 25.5., dem Tag vor der Europa-Wahl, aufgerufen hatte, in einer E-Mail mit folgenden Worten bedroht:
„Du dreckige Zecke, wir werden dich aufschlitzen, am 25. Mai ist dein Todestag.“
Was muss der Absender als Kind Schreckliches erlebt haben, um so eine hasserfüllte Äußerung abzugeben. Und er ist ja keine Ausnahme – millionenfach bedrohen und erniedrigen solche Menschen andere, nur weil sie nicht dem Idealbild dieser Gehorsams-Verletzten entsprechen – z.B. weil sie eine dunklere Hautfarbe haben als diese.
Das Handeln dieser Menschen ist nicht durch Vernunft gesteuert. Man kann sie daher auch nicht über die Vernunft erreichen, um ihnen Toleranz und Mitgefühl nahezubringen. Wie soll das auch gehen, wenn genau Toleranz und Mitgefühl als bedrohlich empfunden werden? Argumente und Apelle greifen nicht, Dialog auf Augenhöhe ist unmöglich – weil in einem Gehorsams-Verletzten kein souveränes Ich anwesend ist. Strafen, Sanktionen und Gegenbedrohung werden sie nur noch mehr in ihrem Tun bekräftigen, zumal, wenn sie von Menschen oder Institutionen kommen, die nicht ihren Idealbildern entsprechen, sondern den bekämpften. Was bleibt?
Könnte es sein, dass Gehorsams-Verletzte vor allem eins brauchen, um vom Hass und der Unterdrückung ihres Ureigenen und dann alles „Anderen“ wegzukommen: Verständnis für ihren verborgenen Schmerz (was nicht Einverständnis mit ihren Ansichten und Taten bedeutet!), Trost und Unterstützung, um Menschlichkeit zu lernen? Vielleicht zum ersten Mal als verletzbare und verletzte
Menschen gesehen zu werden? Mitgefühl kann man nur sehr ansatzweise über den Verstand lernen – wirklich verankert wird es durch die eigene, als heilsam erlebte Erfahrung.
Was für eine Riesen-Aufgabe wir als Gesellschaft, als Menschheit da vor uns haben – einerseits die Weitergabe der Gehorsamskrankheit von einer Generation an die nächste zu unterbrechen, gleichzeitig bedrohte Menschen nachhaltig vor diesen Gehorsams-Verletzten zu schützen – und andererseits Räume zu öffnen, in denen diese Verletzten heilen können.
Darum liegen mir alle Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen so am Herzen, die sich um die individuelle Entfaltung jedes einzelnen Kindes kümmern und die Fähigkeit zu Mitgefühl und Kooperation fördern. Wenn das Ureigene, das Lebendige in jedem Kind sein darf, anerkannt und gefördert wird, dann haben wir als Menschheit eine Chance, wegzukommen von individueller und struktureller Gewalt.
Dieser Text ist auch in der Empathischen Zeit, Ausgabe 3/2019 erschienen.
Folgende Geschichte hat Dominic Barter im Einführungs- Workshops zu den Restorative Circles (wiedergutmachende Verständigungskreise) erzählt:
Ein junger Mann überfällt in einem armen Stadtteil in Rio de Janeiro einen kleinen Laden und entwendet die Kasse. Er wird geschnappt und kommt, nach einer sechswöchigen Untersuchungszeit im Gefängnis, vor ein Jugendgericht. Er hat Glück, denn der Richter kennt die „Restorative Circles“, die Dominic Barter in Rio entwickelt und erfolgreich in verschiedenen Gefängnissen und anderen Institutionen als Konfliktlösungsweg installiert hat. Die Rückfallquote derjenigen, die an einem Restorative Circle Prozess teilgenommen haben, ist drastisch viel niedriger als die derjenigen, die stattdessen eine normale Strafe abgesessen haben.
Der Richter stellt den jungen Mann also vor die Wahl, an einem solchen Prozess teilzunehmen oder stattdessen ein paar Monate seine Strafe abzusitzen in einem der hoffnungslos überfüllten Gefängnisse. Der junge Mann entscheidet sich für den Prozess.
Dieser beinhaltet, dass er als „Erfinder der Tat“ über die Motive seiner Tat (bzw. die Bedürfnisse, die er damit versuchte, sich zu erfüllen) befragt wird. Außerdem, wer noch an dem Prozess teilnehmen sollte aus seinem Familien- und Bekanntenkreis, damit sie mitbekommen, wie die Vereinbarung am Ende zustande kommen wird und eventuell auch auf diese Einfluss nehmen können. Ebenso wird der Ladeninhaber als „Empfänger der Tat“ befragt, wie sich das Erlebte auf ihn ausgewirkt hat, d.h. welche Bedürfnisse dadurch betroffen sind, und wer aus seinem Familien- oder Bekanntenkreis an dem wiedergutmachenden Verständigungsgespräch teilnehmen sollte.
Der junge Mann möchte, dass zwei seiner Kumpels dabei sind und sein Onkel, der ihn angeregt hatte, den Überfall zu begehen, um zu beweisen, dass er ein ganzer Kerl sei. Der Ladenbesitzer nennt außer seiner Frau noch drei der anderen Ladenbesitzer in seiner Straße, die den Überfall miterlebt hatten. Diese Leute werden eingeladen und zunächst in getrennten Vorgesprächen über den Ablauf des Restorative Circle Prozesses aufgeklärt. Dabei werden sie um ihre Bereitschaft gebeten, den Prozess mitzutragen. Nachdem sie ihr Einverständnis gegeben haben, findet das eigentliche Kreisgespräch statt.
Der Facilitator ermöglicht in dem Kreisgespräch beiden Seiten, vollständig gehört und verstanden zu werden, ebenso wie allen anderen Beteiligten. Nach einigen Stunden einigen sich der Ladenbesitzer und der junge Mann darauf, dass dieser genauso lange, wie er hätte in Haft sitzen müssen, für den Ladenbesitzer mehrere Stunden täglich unentgeltlich arbeitet.
Die Vereinbarung wird von allen mitgetragen, und nachdem der junge Mann ein paar Wochen bei dem Ladenbesitzer gearbeitet hat, werden beide noch einmal danach befragt, wie es ihnen mit der Lösung geht. Es stellt sich heraus, dass beide damit zufrieden sind und der Ladenbesitzer dem jungen Mann sogar angeboten hat, nach der unentgeltlichen Zeit gegen einen Lohn weiter bei ihm zu arbeiten.
Hätte dieses wiedergutmachende Lösungssuche-Gespräch ohne die Nachbarn und die Frau des Ladenbesitzers stattgefunden, hätten diese ihn für verrückt erklärt und davor gewarnt, dass der junge Mann ihn doch sofort wieder berauben würde. Hätten die Kumpels und der Onkel des jungen Mannes nicht teilgenommen, hätten sie ihn für verrückt erklärt, weil sie es als würdelos angesehen hätten, dass er sich wie ein Sklave ausbeuten ließe. Da beide Gruppen die Menschlichkeit der anderen Seite erleben konnten, entstanden persönliche Beziehungen und die Gemeinschaft in diesem Teil der Stadt wurde gestärkt.
Das Prinzip KPU – von Simran Wester
„Wenn du auf das Herz eines Menschen lauschst, wirst du ihn besser leiden können.“
Hinter diesem Satz von Marshall Rosenberg steckt das Prinzip KPU – Konstante Positive Unterstellung.
Anstatt dem anderen blöde oder gar böse Absichten zu unterstellen, suchen wir hinter einem Verhalten, das uns nicht gefällt, worum es dem anderen eigentlich gehen könnte.
Eine Mutter ist z.B. sehr erleichtert und berührt, als sie begreift, warum ihre älteste Tochter immer nicht zum Essen herunter kommt, wenn sie die ganze Familie mit einem Ruf durchs Haus dazu eingeladen hat. Das hat sie immer geärgert: Die will wohl, dass man ihr die Einladung auf dem Silbertablett serviert? Als sie nach dem „guten Grund hinter dem bescheuerten Verhalten“ sucht, indem sie sich fragt, worum es ihr selbst wohl ginge, wenn sie sich so verhalten würde, kommt sie darauf, dass die Tochter sich womöglich mehr Nähe wünscht und persönliche Ansprache, dass es ihr letztlich um eine liebevolle, achtsame Verbindung gehen könnte. Das nächste Mal steigt sie die Treppen hinauf und geht zu ihrer Tochter ins Zimmer, um zu schauen, ob sie bereit ist, zum Essen zu kommen. Diese kleine Geste hat ihre Beziehung grundlegend verändert, wie durch ein Wunder sind auch alle anderen Spannungen jetzt viel leichter aufzulösen oder entstehen gar nicht erst.
Andere „gute Gründe“ hinter Verhaltensweisen wie Nein-sagen, Unpünktlichkeit, etwas vergessen, lügen usw. können sein: Selbstbestimmung, angenommen werden wie man ist, Zugehörigkeit, berücksichtigt werden, gefragt werden, spielen, lernen... eigentlich die ganze Palette an menschlichen Bedürfnissen.
Wenn wir uns mit den guten Gründen verbinden, den Bedürfnissen hinter einem Verhalten, bedeutet es nicht, dass wir diesem Verhalten zustimmen oder auf die Vorstellung des anderen eingehen müssten, es schafft einfach nur wieder die Verbindung zwischen uns, durch die wir leichter Wege finden, die für beide passen. Und Ärgern erweist sich meist als ziemliche Energieverschwendung ;-).
Hier ist eines meiner Lieblingslieder, das genau zu diesem Thema passt, gesungen von Marshall Rosenberg: www.youtube.com
See me beautiful, look for the best in me, that‘s what I really am and all I want to be, it may take some time, it may be hard to find, but see me beautiful.
See me beautiful,each and every day, could you take a chance, could you find a way, to see me shining through in everything I do, and see me beautiful.
Singbare Übersetzung:
Sieh mich wunderschön, schau nach dem Besten in mir, so bin ich eigentlich, so möchte ich wirklich sein, vielleicht braucht es lang, vielleicht schwer zu sehen, aber sieh mich wunderschön.
Sieh mich wunderschön, jeden einzelnen Tag, kannst du es ausprobieren, und einen Weg finden, mich dahinter zu sehen, in allem was ich tue, und sieh mich wunderschön.
Die Alpha-Form – von Simran Wester
Ein Baum, der ungehindert wachsen kann, wächst in seine Alpha-Form hinein. Das ist seine Idealform, und das „Wissen“ um diese Form ist schon im Samenkorn angelegt. Es ist dieses „Wissen“, an dem der Baum sich in seinem Wachstum orientiert. Es steuert und befeuert sein Streben nach Entfaltung. Es ist sein Potenzial.
Nach meinem Verständnis hat jedes Lebewesen eine Alpha-Form, auch wir Menschen. Es ist unsere größte Sehnsucht, in diese Alpha-Form hinein zu wachsen und zu werden, wer wir eigentlich sind. Wir sind glücklich, wenn uns das gelingt, und unglücklich, wenn dieses Wachstum behindert ist.
So wie ich es verstehe, besteht zwischen der Alpha-Form, unserem Potenzial, und unseren Bedürfnissen ein enger Zusammenhang. Sie sind wie Qualitäten, die in uns angelegt sind und sich nach Entfaltung und Erfüllung sehnen. Es macht uns beispielsweise glücklich, wenn wir in liebevollen Beziehungen und in Harmonie leben können, wenn wir angenommen sind wie wir sind, wenn wir selbst über unser Leben bestimmen und bereichernd beitragen können, wenn wir unserer Kreativität Raum geben und Achtsamkeit und Selbstfürsorge lernen können. Usw. Die Bedürfnisse liegen sozusagen an der Wurzel unserer Alpha-Form, sie bringen uns dazu, uns zu engagieren und sie geben unserem Tun eine Richtung.
Gleichzeitig gibt es auf der ganzen Welt keinen einzigen Baum, der vollkommen in seiner Alpha Form wäre, kein einziges Lebewesen, keinen einzigen Menschen. Wir befinden uns irgendwo auf dem Weg dahin, in stetigem Wandel, mal näher dran, mal weiter entfernt. Dies zu akzeptieren und damit in Frieden zu sein, ist ebenfalls eines unserer Bedürfnisse, dessen Erfüllung zu unserem Glück beiträgt.
Ein Paradox.
Mich annehmen wie ich bin und gleichzeitig das in mein Leben zu holen, was mich glücklich macht. Werden, wer ich eigentlich bin.
Andere annehmen, wie sie sind und gleichzeitig sie darin unterstützen, das in ihr Leben zu holen, was sie beglückt. Damit sie werden, wer sie eigentlich sind.
Bitten aus der Fülle
Es ist ein warmer Sommertag, der erste Ferientag nach einem langen Schuljahr. Die Frau sitzt mit ihren KollegInnen an einem wunderschönen kleinen See am Rande von Hamburg und genießt den Frieden und die üppige Pracht der Natur. Ein Stückchen entfernt sitzt eine Gruppe junge Männer mit ihren Bierkästen, sie haben Tattoos auf den muskelstarken Armen. Als sie irgendwann aufstehen und zu ihren Autos gehen, hinterlassen sie eine ganze Menge Müll. Die Frau ist erschrocken über den Anblick der herumliegenden Flaschen, zusammengeknüllten Alufolien und Papierfetzen. Sie denkt, wie kann man so eine schöne Umgebung nur so achtlos beschmutzen? Spontan springt sie auf und läuft den Männern hinterher. Während sie auf sie zuläuft, denkt sie noch, auweia, was mach ich hier, bin ich verrückt? Als sie bei ihnen ankommt, sagt sie zu ihnen: „Entschuldigung, ich möchte Sie um etwas bitten.“ Die Männer schauen sie skeptisch an. Was kommt jetzt? „Sie sind gerade von Ihrem Platz aufgestanden und haben Ihren Müll da liegen gelassen.“ Die Männer blicken hinunter zu dem Platz, wo sie gerade gelagert haben. Und da holt die Frau tief Luft, ihr Herz geht ganz auf und es bricht aus ihr heraus: „Dieser See ist so wunderschön und es ist so toll, dass er so nahe bei Hamburg liegt und wir ihn alle genießen können – wären Sie bereit, Ihren Müll einzusammeln und mitzunehmen, damit wir alle ihn noch lange so genießen können?“ „Ja klar, kein Problem“. Haben sie gemacht und war kein Problem.
Wie anders hätte diese Szene ausgehen können, wenn die Frau nicht aus der Freude über diesen Ort gesprochen, sondern geschimpft, gejammert oder gedroht hätte.
Die Wirkung der Gewaltfreien Kommunikation entsteht nicht durch eine bestimmte Wortwahl, sondern vor allem dadurch, dass unsere Worte durch das getragen sind, was uns kostbar ist und uns lebendig macht. Dass sie aus dem Herzen kommen. Ob wir aus der Fülle kommen oder aus dem Mangel, ob wir einladen oder beklagen, macht einen himmelweiten Unterschied.
Yoga und GFK – von Simran Wester
„Können Leute die Yoga machen, besser gewaltfrei kommunizieren? Wie ist deine Erfahrung damit?“
Die Antwort von Marshall Rosenberg auf diese Frage war: „Besser würde ich nicht sagen, aber mein Eindruck ist, dass sie es leichter lernen.“
Gewaltfreie Kommunikation ist für mich Yoga in der Kommunikation: eine Fortsetzung der Achtsamkeit mit dem eigenen Körper und der eigenen Befindlichkeit auf der Ebene der Kommunikation. Grundlegend ist dabei das Verständnis, dass jede/r von uns eine Seele ist, die die Erfahrung macht, Mensch zu sein. Dass wir alle aus derselben Quelle stammen und dieselben Bedürfnisse haben. Und mit allem, was wir tun, letztlich glücklich werden wollen.
Feindbilder-Übung – Simran Wester
„Nee, diese Übung bringt keinen Spaß! Jetzt kann ich auf gar niemanden mehr schimpfen!“ Kopfschütteln.
Das war der Kommentar eines Kursteilnehmers, nachdem er die Übung zu der Arbeit mit Feindbildern nach Miki Kashtan gemacht hatte. So ging es einigen anderen auch - vorher war ihr Weltbild klar: bestimmte Politiker sind korrupt oder machtbesessen, der Kollege ist inkompetent, Rechtsüberholer sind verantwortungslos, die Bekannte ist hinterhältig, Polizisten sind...
Mir selbst hat diese Übung geholfen, ein unbewusstes Vorurteil aufzudecken: Leute, die bei mir „im Verdacht“ standen, ihre Bildung auf dem 2. Bildungsweg erhalten zu haben, waren nach diesem Vorurteil intellektuell nicht ernst zu nehmen. Erst als ich mich gefragt habe: wieso eigentlich und was habe ich davon, schon so lange und unbemerkt an diesem Vorurteil festzuhalten? wurde mir bewusst, dass ich diese Einstellung unbesehen von meiner Herkunftsfamilie übernommen hatte, die überwiegend aus dem Bildungsbürgertum stammt. Diese Überzeugung weiter zu tragen war ein Weg gewesen, meine Zugehörigkeit zu dieser Familie und zu dieser Schicht innerhalb der Gesellschaft zu sichern.
Es war für mich sehr aufschlussreich, das zu erkennen, denn es gibt natürlich andere Wege, wie ich meine Zugehörigkeiten sichern kann, als durch unhinterfragte Vorurteile – und ich kann ganz klar für die Hochachtung einstehen, die ich dafür habe, wenn jemand seine Bildung auf dem 2. Bildungsweg erlangt hat.
Die Schönheit sehen – Simran Wester
Eines Tages kam Thomas Edison von der Schule nach Hause und gab seiner Mutter einen Brief. Er sagte ihr: „Mein Lehrer hat mir diesen Brief gegeben und gesagt, ich solle ihn nur meiner Mutter zu lesen geben.“ Die Mutter hatte die Augen voller Tränen, als sie dem Kind laut vorlas: „Ihr Sohn ist ein Genie. Diese Schule ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten Sie ihn selbst.“ Viele Jahre nach dem Tod der Mutter, Edison war inzwischen einer der größten Erfinder des Jahrhunderts, durchsuchte er eines Tages alte Familiensachen. Plötzlich stieß er in einer Schreibtischschublade auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Er nahm es und öffnete es. Auf dem Blatt stand geschrieben: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben.“ Edison weinte stundenlang. Dann schrieb er in sein Tagebuch: „Thomas Alva Edison war ein geistig behindertes Kind. Durch eine heldenhafte Mutter wurde er zum größten Genie des Jahrhunderts.“
Dazu fällt mir folgender Satz von Marshall Rosenberg ein: „Die Schönheit in anderen zu sehen ist dann am nötigsten, wenn sie sich auf eine Weise verhalten, die es am schwersten macht, sie zu sehen.“
Wofür wir unsere Partner haben… – Simran Wester
Lange Zeit war ich auf der Suche nach dem, was wirklich sinnvoll ist in diesem Leben. Was wirklich lohnt, meine Energie zu investieren und mich tief befriedigen würde. Gefunden habe ich: bedingungslos lieben zu lernen. Seither orientiere ich, was ich tue, an diesem Motiv, es hat oberste Priorität. Zu lernen, alles in mir und in der Welt liebevoll anzuschauen, auch die Dinge, die eine für mich schwierige „Verpackung“ haben, motiviert mich und gibt mir Kraft und Geduld. Und es schenkt mir immer wieder Augenblicke tiefer Verbundenheit, tiefer Einsicht und grundlegender Freiheit.
Radikale Selbstannahme – Simran Wester
Wenn wir eine äußere Wunde haben, versorgen wir sie mit einem Pflaster oder Verband und passen gut auf, dass sie heilen kann. Auch andere sind dann rücksichtsvoller und akzeptieren unsere eventuellen Einschränkungen, die uns anders sein lassen als die Norm.
Wenn wir innere Verletzungen tragen, kann das ganz anders sein. Dann gestehen wir uns unseren Schmerz oft nicht ein oder zu, tun so als ob nichts wäre und erwarten, dass wir normal funktionieren. Weil wir uns eine Maske aufsetzen und diese besondere Empfindlichkeit nicht nach außen kommunizieren, erwarten auch andere von uns, dass wir uns „nicht anstellen“. Was es uns wiederum noch schwerer macht, zu uns zu stehen. Und dann erwarten wir wiederum auch von anderen, sich „zusammen zu reißen“. Ein Teufelskreis, bei dem unsere Authentizität komplett auf der Strecke bleibt.
Liebevolle, einfühlsame, grundlegende Selbstannahme ist der Schlüssel. So wie ich bin, bin ich, und das ist in Ordnung. Wenn die Schöpfung mich anders gewollt hätte, wäre ich anders. Mit dieser Akzeptanz kann ich schauen, was ich in meinem Leben verändern und was ich behalten will.
Wenn Menschen Liebe gepredigt wird, lernen sie nicht lieben, sondern predigen – Simran Wester
Dieser Satz von Alice Miller bestätigt mir, was die Haltung der GfK nahelegt: gelebtes Mitgefühl ist ansteckend, sozusagen.
Wir lernen aus der Erfahrung, sie geht direkt ins Herz.
Wenn ich den Raum des Mitgefühls öffne, können wir ihn beide betreten. Wenn ich nur darüber spreche, bleibt es ein schöner Gedanke.
Eine Mutter schleift mit zusammengekniffenen Lippen einen kleinen Jungen am Arm durch die Wartehalle des Flughafens. Das Kind schreit verzweifelt und flehentlich „Mama! Mamaaa!!!“ Alle schauen betreten weg. Ich halte es kaum aus, in mir fängt alles an mitzuschreien. Entsetzte, wütende Gedanken gehen mir durch den Kopf, mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich stelle mir vor, wie ich ihr den Jungen entreiße und versuche ihn zu trösten, oder wie ich sie stoppe und ihr sage, wie unmöglich sie sich verhält, wie sie gerade dabei ist, den Jungen zu traumatisieren und wie wichtig gerade in diesem Alter liebevolles Verständnis ist. Im Kopf fallen mir tausend Sachen ein, die ich ihr erklären und nahelegen würde. Und ich weiß natürlich, dass das nichts bringen würde außer vielleicht eine wütende Reaktion ihrerseits. Dann stelle ich mir vor, wie ich sie stoppen würde, sie einladen würde, sich mit mir hinzusetzen, ich würde den Jungen vielleicht auf den Schoß nehmen und sie anschauen und fragen, was denn gerade los sei. Ihr signalisieren, dass ich eine Ahnung habe, dass sie gerade ganz furchtbar im Stress sei, und ob ich vielleicht irgendetwas für sie tun könne? In meiner Fantasie wird sie dann ganz weich, fängt vielleicht an zu weinen, nimmt den Jungen vielleicht selbst auf den Schoß. Ich schau sie liebevoll an und lass ihr den Raum, sich wieder einzufangen. Puh, das entspannt mich auch. Vielleicht finde ich das nächste Mal den Mut, das auch tatsächlich umzusetzen.
Warum-Fragen – Simran Wester
Warum machst du deine Hausaufgaben so nachlässig?
Warum interessieren dich meine Sachen nicht?
Warum verbringst du so viel Zeit am Computer?
Warum hältst du dich nicht an unsere Abmachung?
Die Antwort auf diese Fragen ist sehr wahrscheinlich eine Rechtfertigung oder eine Verteidigung. Verständlich – die Fragen beinhalten eine Unterstellung, ein Urteil über den anderen. Solche Fragen - und die Reaktion darauf - behindern eine gute Verbindung und münden leicht in einen Machtkampf.
Auf „warum“-Fragen wollen wir oft keine ehrliche Antwort, sondern wollen nur unserem Schmerz, unserer Enttäuschung oder Ratlosigkeit Ausdruck verleihen. Wenn wir so eine Frage stellen, schieben wir unbewusst dem anderen die Verantwortung für unsere Gefühle und unseren Zustand zu.
Was hilft an der Stelle, ist erst einmal Selbstempathie. Wenn ich mir ein- und zugestehe, dass ich enttäuscht, ratlos oder verletzt bin, kann ich nach den Bedürfnissen suchen, die bei mir dabei betroffen sind. Neben z.B. Würdigung, Rücksichtnahme, Zuwendung und Verstanden werden geht es mit großer Wahrscheinlichkeit auch darum, wirklich zu verstehen, wieso der andere sich so verhält – welche Bedürfnisse er sich also mit seinem Verhalten erfüllt oder erfüllen möchte.
Selbstverantwortung bedeutet, die Zuständigkeit für die Erfüllung meiner Bedürfnisse bei mir zu lassen. Mich damit zu verbinden, wie wunderbar es wäre, wenn sie erfüllt wären, und aus dieser Energie heraus den anderen einzuladen, zu ihrer Erfüllung beizutragen. Dann kann ich das Urteil über den anderen loslassen und wirklich bitten. Meine Fragen an den anderen hören sich dann vielleicht so an:
Wie geht es dir mit den Hausaufgaben?
Was müsste gegeben sein, dass du mir gerne zuhörst?
Was ist es, was dich so viel Zeit am Computer verbringen lässt?
Wie stellst du dir unsere Abmachung vor?
„Wie“- oder „was“- Fragen laden den anderen eher ein, von sich zu sprechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich dabei etwas lerne, ist groß, und dass eine gute Verbindung entsteht, ebenso.
Und letztlich hängt natürlich alles von meiner Haltung ab – wenn ich den anderen für schuldig, dumm oder verantwortungslos halte, hilft die schönste Formulierung nichts. Immerhin kann die Vermeidung des Wörtchens „warum“ mich vielleicht daran erinnern, meine Urteile loszulassen, bevor ich den anderen anspreche. Ohne gute Verbindung wird sich eh nichts ändern.
Psycho-Quatsch – Simran Wester
Tom kommt zur Tür herein und lässt sich auf das Sofa fallen.
Marina: Oh, was ist los? Wie fühlst du dich?
Tom: Echt doof. Ich fühl mich echt ausgetrickst!
Marina: Also Tom, du weißt doch. Das ist kein Gefühl. Welches Gefühl ist da in dir?
Tom: Ach, weiß nicht. Was soll die Frage? Bist du jetzt meine Psychologin?
Marina: Ich versuch doch nur dich zu verstehen. Darum will ich wissen, wie du dich fühlst und welche Bedürfnisse bei dir unerfüllt sind.
Tom: Och nee, lass mich in Ruhe mit dem Psychoquatsch, das nervt!
Als begeisterter GfK-Neuling können wir leicht eine derartige Bauchlandung erleben, weil wir die GfK am Anfang oft noch mechanisch und unempathisch anwenden. Wenn unser Gegenüber nur einen geringen Zugang zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen hat, hilft es nichts, diese abzufragen. Wenn wir stattdessen eine empathische Vermutung anbieten, ist die Chance viel größer, dass wir in Verbindung kommen. Der Dialog zwischen Marina und Tom könnte sich dann so anhören:
Marina: Oh, was ist los? Du siehst ja bedrückt aus, geht’s dir nicht so gut?
Tom: Nee, ich fühl mich total doof, echt ausgetrickst. Das ist so gemein!
Marina: Mh. Hört sich an, als ob du dich über etwas ärgerst?
Tom: Ja, der Werner hat einfach meine Fotos genommen und auf seine Facebook-Seite gestellt, das geht gar nicht!
Marina: Welche Fotos denn?
Tom: ….
Marina: Wow, okay. Du bist echt verletzt, ne?
Tom: Ja, total.
Marina: Hat er dich gar nicht gefragt?
Tom: Nee, hat er nicht. Total rücksichtslos!
Marina: Puh, verstehe. Du hättest es echt geschätzt, gefragt zu werden, richtig? Oder dass überhaupt Rücksicht darauf genommen wird, dass Du das selbst entscheiden willst, was mit den Fotos passiert, ne?
Tom: Ja genau. Das wäre gut gewesen. Das wär mir wichtig gewesen.
Marina: Mh. Und jetzt? Willst du das mal mit ihm ansprechen?
Tom: Weiß nicht. Mal schauen. Ich würde echt gerne wissen, was er sich dabei gedacht hat.
Die wichtigste Voraussetzung für gelingende Kommunikation ist, eine verständnisvolle Verbindung herzustellen. Dann können wir alle Konzepte von Richtig und Falsch loslassen und einfach unserem Herzen folgen. Kann sogar sein, dass wir gar nichts sagen, sondern nur still unsere Aufmerksamkeit auf die Gefühle und Bedürfnisse des anderen richten und „mitschwingen“ – der Raum, der dadurch für den anderen entsteht, kann es ihm ermöglichen, sich zu klären und wieder ganz bei sich anzukommen.
Mangel und Fülle – Simran Wester
„Ich habe seit zwei Monaten jedes Wochenende allein verbracht. Ich fühl mich ziemlich einsam. Mir fehlt einfach Gemeinschaft. Könntest Du Dir vorstellen, mir am kommenden Wochenende Gesellschaft zu leisten?“
„Ich habe die letzten beiden Monate jedes Wochenende allein verbracht. Ich merke, dass ich langsam einsam werde und mich nach Gemeinschaft sehne. Für mich wäre es klasse, wenn wir das kommende Wochenende zusammen verbringen könnten – hast Du Lust?“
Auf welche dieser beiden Bitten würdest Du lieber mit „ja“ antworten? Auf den ersten Blick sind sie beide astrein GfK-mäßig. Was ist der Unterschied? Wenn man sie hören würde, wäre der Unterschied noch deutlicher: die erste klingt vermutlich ein bisschen bittend, die andere eher einladend; die erste drückt ein bisschen auf die Tränendrüse, die zweite lässt Spaß vermuten. Die erste kommt aus einem Mangel-Bewusstsein, die zweite aus einem Fülle-Bewusstsein.
Ob wir aus „Mangel-Land“ oder „Fülle-Land“ kommen, hängt davon ab, wie gut wir unsere Bedürfnisse annehmen und wertschätzen können. Es lohnt sich, die Vorstellung der Erfülltheit eines Bedürfnisses körperlich auszudrücken, das wir gerade als nicht erfüllt erleben: die Energie, mit der wir uns dann dafür einsetzen, wird eine ganz andere sein.
Vier gute Gründe zu atmen – Simran Wester
Wenn du merkst, dass du wütend wirst, hast du drei Optionen:
a) Du folgst dem Impuls deiner Wut und lässt sie einfach raus (meist beruhen deine Urteile dabei allerdings auf unempathischen Interpretationen…)
b) Du unterdrückst deine Wut (und sie vergiftet dich und deine Beziehungen…)
c) Du transformierst sie durch Atmen und Anerkennung deiner darunter verborgenen Gefühle und Bedürfnisse. J
Hier kommen vier gute Gründe, warum es hilft, dann zu atmen:
1) Dann sagen wir nichts, was wir nachher bereuen könnten.
2) Die Luft, die wir durch die Nase einatmen, kühlt den Vorderhirnlappen ein wenig, wodurch er wieder „angeschaltet“ werden kann, nachdem er durch das Adrenalin im Blut und die damit zusammen hängende leichte Temperaturerhöhung im Gehirn abgeschaltet wurde (dort sind all die guten Konzepte wie GfK usw. gespeichert – wenn wir wütend sind, steht uns nur das Mittelhirn mit den alten Mustern zur Verfügung oder das Stammhirn mit dem Notfallprogramm von Angriff, Flucht oder Erstarrung).
3) Tief zu Atmen weitet den Brustraum, lässt das Herz freier schlagen und verbindet uns wieder mit unseren anderen Gefühlen.
4) Der zusätzliche Sauerstoff, der dadurch ins Blut kommt, hilft, das Adrenalin abzubauen (besonders natürlich, wenn wir mal eben raus gehen dafür…)
Wenn wir unseren wütenden Gedanken dann mit etwas innerem Abstand empathisch zuhören, können wir die darunter liegende Not und die unerfüllten Bedürfnisse erkennen – und habe mehr innere Freiheit, einvernehmliche Wege für ihre Erfüllung zu finden, als wenn wir noch im Adrenalin-Rausch sind.
In diesem Sinne: atme für deinen inneren und äußeren Frieden!
Die Geschichte von der Schaf-Farm – Autor unbekannt
Ein Farmer hatte viele Schafe, die auf den Weiden seiner Farm weideten.
Eines Tages zog auf die Nachbarfarm ein neuer Farmer ein, der ein paar große, wilde, frei herumlaufende Hunde hatte. Bald schon entdeckten die Hunde die benachbarte Schafherde und fielen jeden Tag über sie her, verschreckten die Schafe und rissen auch ein paar.
Der Schaf-Farmer war entsetzt. Er fuhr zu seinem Nachbarn und forderte von ihm, dass er seine Hunde anketten oder einsperren müsste. Der Nachbar zuckte nur mit den Schultern und meinte, das sei nicht sein Problem.
Der Schaf-Farmer war sehr wütend, aber er fuhr erstmal nach Hause zurück, um zu überlegen, was er tun könnte.
Er könnte die Felder des Nachbarn verwüsten – danach war ihm gerade sehr zumute – aber dann würde der Nachbar seine Hunde vermutlich erst recht auf seine Schafe hetzen, oder er würde ihn anzeigen, und auf jeden Fall wären sie auf immer Feinde geworden.
Er könnte den Nachbarn anzeigen – aber bis das Urteil gefällt wäre, hätten die Hunde wahrscheinlich viele weitere Schafe gerissen, und außerdem würde der Nachbar sich früher oder später rächen.
Er könnte um alle seine Weiden Stacheldrahtzäune ziehen, aber das war sehr aufwändig, und er konnte Stacheldraht nicht leiden.
Was er auch bedachte, er konnte keine Lösung finden, mit der er rundum zufrieden gewesen wäre, immer hätte er etwas in Kauf nehmen müssen, was ihm nicht behagte.
Also, noch mal langsam. Worum geht es mir eigentlich, dachte er. Ich brauche Sicherheit für meine Schafe. Ich brauche Verständnis für mein Anliegen. Ich möchte mit meinem Nachbarn in Frieden leben.
Ich bin sicher, dass der Nachbar das eigentlich auch will. Er versteht vielleicht nur nicht, wie wichtig mir jedes einzelne Schaf ist. Vielleicht denkt er, wenn auf seinen Feldern der Wind ein paar Ähren knickt, das ist auch nicht der Weltuntergang, das ist eben Schicksal.
Wie kann ich ihm verständlich machen, wie kostbar mir jedes einzelne Schaf ist? Er hat vielleicht keine Ahnung, wie sehr einem die Tiere ans Herz wachsen können.
Dann hatte er eine Idee.
Am nächsten Tag ging er auf seine Weide, lud zwei der Lämmer in seinen Wagen und fuhr zum Nachbarn. Er schenkte den Kindern des Nachbarn die beiden Lämmer, trank noch eine Tasse Kaffee mit seinem Nachbarn und fuhr dann wieder nach Hause.
Die Hunde hat er auf seinen Weiden nie wieder gesehen.
Die lange Nacht über Gewaltfreie Kommunikation im Deutschlandfunk – Barbara Leitner
Wer kennt das nicht? Gerade war alles noch in Ordnung, dann ein Blick, ein Wort, ein Satz und die Beziehung gerät ins Wanken, mit dem Liebsten, dem Kind, mit Freunden oder Kollegen. Was nährt Verbindung und Verstehen? Wodurch fühlen sich Menschen verletzt und einsam? Die „Lange Nacht über Gewaltfreie Kommunikation“ war am 27. Mai im Deutschlandfunk zu hören. Ein Manuskript zum nachlesen kann dort heruntergeladen werden.
www.deutschlandfunk.de/die-lange-nacht-ueber-gewaltfreie-kommunikation
Nichts tun, was nicht Spiel ist – Marshall Rosenberg
„Wenn ich empfehle, nichts zu tun, was nicht Spiel ist, halten mich einige für radikal. Und doch bin ich fest davon überzeugt, dass es eine wichtige Form des Selbst-Mitgefühls ist, Entscheidungen aus dem reinen Wunsch zu fällen, einen Beitrag zum Leben zu leisten, und nicht aus Angst, Schuld, Scham, Verpflichtung oder Verbindlichkeit. Wenn wir uns der lebensbereichernden Absicht hinter dem, was wir tun, bewusst sind, dann enthält sogar schwere Arbeit ein Element des Spiels. Im Gegensatz dazu wird etwas, das normalerweise Freude bringt, wenn es aus Verbindlichkeit, Pflicht, Angst, Schuld oder Scham getan wird, seine Freude verlieren und letztendlich Widerstand hervorrufen."
GFK-Meditation – Simran Wester
Schließe Deine Augen oder schau entspannt auf einen Punkt dir gegenüber, ohne zu fokussieren.
Setz dich aufrecht, so dass du gut atmen kannst.
Nimm wahr wie dein Körper sich anfühlt.
Nimm wahr, wie du atmest.
Beobachte, wo es deine Aufmerksamkeit hin zieht. Bemerke es, ohne zu bewerten. Atme langsam tief in Deinen Körper hinein und lass beim Ausatmen alle Anspannung los. Wiederhole noch zweimal.
Nimm wahr, wie es dir geht, wie du dich fühlst, auf der körperlichen Ebene, auf der Herzensebene und mit Blick auf dein ganzes Leben. Lass alle Gefühle zu und atme dreimal lang und tief ein und aus.
Verbinde deine Gefühle mit deinen Bedürfnissen – welche sind erfüllt, welche nicht? Wofür bist du dankbar und was fehlt dir, wonach sehnst du dich?
Lege alle erfüllten Bedürfnisse dieser drei Ebenen in die eine Hand und spüre deine Dankbarkeit, lass sie sich in deinem Körper ausbreiten. Atme wieder dreimal lang und tief ein und aus.
Lege alle unerfüllten Bedürfnisse dieser drei Ebenen in die andere Hand und sichere ihnen zu, dass du sie ernst nimmst, dass du sie im Blick behältst und dich um sie kümmern wirst. Atme wieder tief mit dem ganzen Körper, dreimal ein und aus.
Dann lade das Leben ein, dir diese Bedürfnisse zu erfüllen oder dir Wege zu zeigen, wie sie erfüllt werden können. Nimm jedes einzelne unerfüllte Bedürfnis und wiederhole in Gedanken „Ich lade das Leben ein, mir mein Bedürfnis nach … zu erfüllen“.
Atme wieder dreimal lang und tief ein und aus.
Zum Schluss lege deine Hände übereinander auf deine Brustmitte, lass es noch ein bisschen nachklingen und komm wieder zurück in die Außenwelt.
Der gute Grund – Simran Wester
Eine Frau bietet ein Seminar an und bereitet sich kein bisschen darauf vor. Das Seminar geht voll den Bach runter, und das hat sie geahnt. Warum hat sie sich nicht vorbereitet?
Ein Mann wird arbeitslos, ohne Aussicht auf neue Arbeit. Er schiebt die Kommunikation mit dem Arbeitsamt wochenlang vor sich her und riskiert so auch noch den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Warum?
Weil ihr die Freundin nach zwei Jahren Funkstille so fehlt, überwindet eine Frau sich endlich, sie wieder anzusprechen. Nach zwei Tagen bricht sie den Kontakt jedoch erneut ab. Wieso fragt sie nicht nochmal nach?
Für all diese offensichtlich selbst-sabotierenden Verhaltensweisen (die übrigens oft mit viel Scham besetzt sind) gibt es einen guten Grund. Wie es hinter allen seltsamen, unpassenden, blöden, und sogar hinter destruktiven Verhaltensweisen einen guten Grund gibt. Man kann auch sagen, ein unbefriedigtes Bedürfnis, ein verborgenes Anliegen, das uns – unbewusst – ebenso wichtig ist wie unsere bewussten Anliegen.
Indem die Frau, die das Seminar angeboten hat, sich nicht darauf vorbereitet, hat sie vor sich selbst einen Grund geschaffen, warum das Seminar scheitern musste – und es konnte nicht mehr daran liegen, dass sie unfähig gewesen wäre. So hat sie sich ihr letztes Restchen Selbstrespekt bewahrt.
Indem der Mann sich der Kommunikation mit dem Arbeitsamt entzogen hat, hat er sich seine Selbstbestimmung und Würde erhalten, die er nach seinem Empfinden in der Unterwerfung unter die Regeln der Arbeitslosigkeit verloren hätte.
Indem die Frau den Kontakt abbricht, vermeidet sie, eine mögliche Ablehnung durch die Freundin zu erleben und rettet damit ihre Souveränität.
Zu erkennen, welche guten Gründe hinter dem „bescheuerten“ Verhalten stecken, und diese Bedürfnisse ganz zu umarmen und in Besitz zu nehmen ermöglicht, andere, weniger kostspielige Wege zu finden, wie sie erfüllt werden können.
Glaubenssätze und innere Wächter – Simran Wester
Kaum zu glauben, dass Sätze wie „Ich bin nicht gut genug“, „Mit mir stimmt etwas nicht“ oder gar „Im Kern bin ich böse“, mit denen wir uns selbst ausbremsen, ursprünglich als Schutz gemeint waren – für uns selbst. Sie behindern uns an allen Ecken und Enden, und sie sind enorm widerstandsfähig. Sie lassen sich nicht einfach rausschmeißen, wegmeditieren oder durch positive Glaubenssätze ersetzen. Es sind Überzeugungen, die wir in unserer Kindheit gebildet haben, weil damals alles darauf hingedeutet hat, dass dies die Wahrheit war. Es wäre gefährlich für uns gewesen, es nicht zu glauben – wir hätten z.B. unsere Eltern überfordert, die viel zu sehr mit sich selbst oder mit der Bewältigung ihrer eigenen Probleme beschäftigt waren. Wir hätten riskiert, noch mehr Ablehnung, Bestrafung oder gar den Verlust der Familie zu erfahren, und das hätten wir nicht ausgehalten, vielleicht sogar nicht überlebt. Ich kenne eine Frau, die wurde als Siebenjährige von ihrer Mutter in die Psychiatrie gebracht (und dort angenommen), weil sie sich geweigert hatte zu gehorchen.
Um in einem Umfeld zu überleben, das uns nicht so angenommen hat, wie wir waren, vielleicht sogar mit Gewalt auf unsere Lebendigkeit reagiert hat, mussten wir uns einen inneren Wächter bauen, der uns wirkungsvoll davon abhielt, in die Gefahrenzone hinein zu gehen und uns stattdessen anpassen und auf die Erfüllung unserer Bedürfnisse verzichten.
Erst wenn wir diesen inneren Wächtern, die uns auch heute noch versuchen davon abzuhalten, unser Licht leuchten zu lassen, von Herzen „Danke“ sagen können dafür, dass sie uns unser ganzes Leben lang beschützt haben, werden sie bereit sein, die alten, hinderlichen Glaubenssätze loszulassen, die sie uns treu immer wieder in den Weg gestellt haben. Wir können dann mit ihnen zusammen eine neue Aufgabe für sie finden, vielleicht neue, positive, ermutigende Glaubenssätze finden.
Die Auster – Rachel Naomi Remen
Auszug aus der Geschichte „Perlen der Weisheit“
„Eine Auster ist weich, zart und verletzlich. Ohne den Zufluchtsort ihrer Schale könnte sie nicht überleben. Doch Austern müssen ihre Schale öffnen, um Wasser „atmen“ zu können. Während eine Auster derart atmet, dringt manchmal ein Sandkorn in die Schale ein und wird so zu einem Teil ihres Innenlebens. Solche Sandkörner können Schmerzen verursachen, doch deshalb verändert eine Auster ihre zarte Natur nicht. Sie wird nicht hart und ledrig, um nichts fühlen zu müssen. Sie vertraut sich vielmehr weiterhin dem Ozean an und öffnet sich, um atmen zu können. Aber sie reagiert. Langsam und geduldig umhüllt die Auster das Sandkorn mit dünnen, durchscheinenden Schichten, bis sie im Laufe der Zeit an der Stelle, wo sie am empfänglichsten war für ihren Schmerz, etwas von großem Wert geschaffen hat. Man kann sich eine Perle als Antwort auf das Leiden einer Auster vorstellen. (…) Wenn man weich und verletzlich ist und auf dem sandigen Meeresgrund lebt, dann wird die Erzeugung von Perlen zu einer Lebensnotwendigkeit, wenn man gut leben will.“
Allergieauslöser – Simran Wester
Wenn du mehr als fünfmal das Wort „Bedürfnis“ in einer halben Stunde verwendest, riskierst du, dass die Menschen um dich herum eine Allergie gegen dieses Wort entwickeln. Bei manchen reichen auch schon weniger Male. Bei dem Wort Gefühle ist es ähnlich, wobei dieses Wort im normalen Sprachgebrauch inzwischen auch recht häufig verwendet wird – ohne dass damit allerdings Gefühle angesprochen werden - meistens handelt es sich dann um Interpretationen, Überzeugungen oder Eindrücke. Jedenfalls empfiehlt es sich, diese Worte zu vermeiden, wenn wir versuchen, die GfK in unsere Alltagsgespräche zu integrieren. Anstatt zu sagen „ich habe das Bedürfnis nach Selbstbestimmung“ oder „mein Bedürfnis gesehen zu werden ist nicht erfüllt“, könnten wir sagen: „ich möchte das selbst bestimmen“ oder „mir geht es darum, überhaupt gesehen zu werden“. Interessant ist dabei auch, dass selbst offensichtlich allergische Leute Wert auf die GfK legen, wenn du dann mal nicht GfK-mäßig reagierst: „Das war jetzt aber nicht GfK, Mama!“
Empathie geht vor Belehrung – Simran Wester
Es ist verblüffend, welche de-eskalierende Wirkung Empathie hat, sie grenzt an ein Wunder. Hier ein Beispiel, das vor Jahren in einem Seminar stattfand: Eine Frau regt sich über etwas auf, was ein anderer Teilnehmer gesagt hat, und ich versuche zu erklären, dass alles bloß ein Missverständnis sei - wenn sie das doch bloß begreifen würde, dann bräuchte sie nicht so wütend zu werden. Sie schaut mich misstrauisch an, ereifert sich noch mehr und wird jetzt auch noch auf mich sauer (weil ich sie ja „belehre“). Alle halten den Atem an, weil plötzlich so viel Gewalt in der Luft liegt, und ich habe Angst, dass das Mobiliar kurz und klein geschlagen wird. Dann fragt ein Kursteilnehmer leise aber mit viel Mut: „Also ich glaube, dass du einfach verstanden werden möchtest, ist das richtig? Dass wir verstehen, wie doof du dich gefühlt hast in dieser Situation, von der du erzählt hast? Und dass du es ganz schrecklich findest, hier nicht verstanden zu werden?“ Sie schaut ihn mit großen Augen an und bricht dann in Tränen aus. Lange Zeit ist nur dieses Herz-zerreißende Weinen zu hören, dann kommt langsam Bewegung in die Gruppe: Papiertaschentücher werden weiter gereicht, ein Arm legt sich um die zuckenden Schultern und schließlich wage ich die Frage: „Magst du uns erzählen, was sich gerade in dir abspielt?“ Die ganze Wut ist verflogen, und ich habe eine wichtige Lektion von Marshall Rosenberg kapiert: ‚Empathy over Education‘ (Empathie vor Belehrung).
Du brauchst deine Kinder nicht zu erziehen, sie machen dir doch alles nach! – Simran Wester
“Mein 13-jähriger Sohn war neulich richtig wütend und kurz davor, einen seiner beiden jüngeren Zwillingsbrüder zu verletzen. Sie saßen zusammen auf dem Sofa. Ich tat das, was ich seit neuestem immer tue, wenn die Gefahr heraufzieht, dass sie handgreiflich werden könnten, ich setze mich zwischen sie. David saß auf einem Stuhl neben mir, atmete heftig und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Sein Bruder saß auf der anderen Seite neben mir auf dem Sofa. Aus Gewohnheit fing ich an, David darüber zu belehren, wie wichtig es sei zu lernen, seine Wut im Griff zu haben, und dass er vielleicht ein bisschen raus oder in sein Zimmer gehen sollte, bis er sich wieder beruhigt hätte. Er atmete weiter heftig und hielt seine Fäuste geballt.
Dann sagte sein Bruder so etwas wie „David, wolltest du einfach nur mitmachen?“ Mir wurde schlagartig bewusst, dass das was David brauchte, Empathie war, und ich fing auch an, zu vermuten, was er gerade vermisste. Meine erste Vermutung war schlicht ein Echo dessen, was sein Bruder schon gesagt hatte: „Geht es dir darum, mitmachen zu können?“ Ich sah, dass Davids Fäuste sich ein kleines bisschen lockerten. Ich vermutete weiter: „Geht es dir darum zu spüren, dass du dazugehörst?“ Seine Fäuste entspannten sich noch mehr und sein Atem fing an sich zu beruhigen.
Dann sprach ich die Vermutung aus, dass sein Bedürfnis dazuzugehören seit langem nicht erfüllt war mit seinen Brüdern. Davids Fäuste entspannten sich noch mehr, und auch sein ganzer Körper. Ich fragte ihn, ob es denn so sei, wenn er dazu gehören könnte, dass er dann auch spüren könne und vertrauen könne, dass er geliebt werde. Tränen liefen seine Wangen hinunter.
Ich bin so dankbar für die Werkzeuge der Gewaltfreien Kommunikation, durch die die Beziehung zu meinem Sohn so viel Achtsamkeit und Heilung erfahren kann.“
Dieses Feedback hatte Inbal Kashtan, amerikanische GfK-Trainerin und Autorin, nach einem GfK-Familiencamp bekommen. Es hat mich sehr berührt, weil es einen Ausweg aus einer alltäglichen Beziehungsfalle zeigt, in die wir mit Kindern geraten können. Viele TeilnehmerInnen an meinen Kursen sind Eltern und Lehrerinnen, und mir ist es ein großes Anliegen, ihnen zu helfen, mehr Bewusstheit und Mitgefühl in die Beziehung zu ihren Kindern zu bringen – schließlich lernen Kinder in erster Linie durch Nachahmung.
Eine Bitte ist eine Bitte wenn… – Simran Wester
Was macht eigentlich eine Bitte zu einer Bitte? Das Wörtchen „bitte“ bestimmt nicht, das soll meist nur eine höflich verpackte Forderung kaschieren – oder dient gar als Rechtfertigung für die Forderung: „Ich habe doch „bitte“ gesagt, da kannst du doch nicht „nein“ sagen!?“ Letztlich ist es die Haltung, mit der ein Anliegen vorgebracht wird: ist es eine Einladung an den anderen, zu meinem Glück beizutragen oder erwarte ich, dass er meinen Vorstellungen entspricht? Darf er „nein“ sagen oder will ich ihm das eigentlich nicht zugestehen – vielleicht, weil ich keine andere Lösung weiß? Eine echte Bitte ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Satz angehängt werden könnte wie „bist Du einverstanden?“ oder „Ist das für dich okay?“ Wenn sie dann auch noch positiv formuliert ist (also das gesagt wird, was man will, nicht, was man nicht will), konkret, machbar und gegenwartsbezogen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie zu einem einvernehmlichen Dialog führt.
Kopf und Körper – Jude Todd und Simran Wester
„…fragte mein Bruder – neun Jahre älter als ich – ob ich wüsste, mit welchem Teil des Körpers ich dachte. … Ich klopfte mit meiner Hand auf meinen treuen Solarplexus. Mein Bruder lachte und belehrte mich genüsslich, dass Menschen mit dem Gehirn denken, das sich im Kopf befinde, nicht mit ihrem Bauch.
Diese Anatomiebelehrung ist bezeichnend für die vielen Teile der Unterweisung, die ich, wie die meisten Menschen in den euro-amerikanischen Kulturen, bezüglich der Vorherrschaft des Gehirns und des Kopfes über andere Teile des Körpers erhalten habe. Solche Unterweisung hat über Generationen hinweg den Vorrang weiter gegeben, den unsere Kultur dem „Verstand“ einräumt – von dem angenommen wird, dass er sich im Gehirn befinde – gegenüber dem „Körper“, den Vorrang der Rationalität gegenüber den Impulsen, Gefühlen und Emotionen.“ …
„Kinder werden ebenfalls so erzogen und diszipliniert, dass sie ihre Impulse und Gefühle unterdrücken, und sie werden oft dafür bestraft, ihrem eigenen Willen zu folgen. Solche „Disziplinierung“ kann in Kindesmisshandlung ausarten, die im Extremfall schlimme Narben hinterlassen kann. Wie Psychologen uns versichern, kann es so traumatisch sein, geschlagen, misshandelt oder gedemütigt zu werden, dass das Kind diese Erfahrung nicht verarbeiten kann; stattdessen unterdrückt das Kind das Trauma und speichert unterbewusst die Erinnerung daran in den entsprechenden Körperbereichen. Diese unterdrückten Traumata führen zu verhärteten Muskelstrukturen, die wiederum den Blutkreislauf und den Energiefluss behindern, was zu weiterer Betäubung der Wahrnehmung führt. Auf diese Weise wirkt sich Kindesmisshandlung ähnlich aus wie militärisches Training: es beschädigt die Verbindung zwischen Verstand und Körper, so dass das Kind – und später der erwachsene Mensch – sich nicht auf physische Eindrücke, Impulse und Gefühle stützen kann, wenn er oder sie moralische Entscheidungen trifft.
Das daraus resultierende Körper-entfremdete Denken ist nicht nur für das misshandelte Kind gefährlich, sondern auch für die Gesellschaft, in der das Kind lebt. Kinder, denen beigebracht wird, ihren Körperreaktionen zu misstrauen, lernen, externen Autoritäten zu gehorchen anstatt ihrer eigenen inneren Autorität.“ …
Diese zwei (von mir übersetzten) Abschnitte stammen aus einem Aufsatz der kalifornischen Professorin Jude Todd mit dem Titel „Body Knowledge, Empathy and the Body Politic“ („Körper-Wissen, Empathie und Körper-Politik“), nachzulesen unter : www.thefreelibrary.com Mir hat der Text Antwort auf die Frage gegeben: “Wie konnte es geschehen, dass Menschen so gehandelt haben wie Eichmann, dass ein ganzes Volk, nämlich wir Deutschen (und andere euro-amerikanische Völker sind da ja nicht so weit von entfernt) sich so grausam verhalten hat?“ – er hat es mir erleichtert, die Menschen hinter diesen entsetzlichen Handlungen zu ahnen. Es schockiert mich allerdings auch zu verstehen, dass wir alle aus einer auto-traumatisierten Kultur stammen, in der das Traumatisieren zur höchsten Eltern-Pflicht erhoben war, seit vielen Generationen. Umso wichtiger ist es mir, dazu beizutragen, dass wir heilen, dass wir „Kopf und Körper“ wieder zusammen bringen und eine Chance haben, wirklich glücklich zu werden.
Weniger blöd – Marshall Rosenberg und Simran Wester
Einer meiner Lieblings-Merksätze von Marshall Rosenberg, den ich gerne zitiere, weil ich ihn so herzerfrischend finde, lautet:
„Es geht nicht darum, perfekt zu sein, sondern stückchenweise weniger blöd.“
Was für eine Erleichterung, wenn man feststellt, dass man in der Kommunikation mit den Menschen, die einem am Herzen liegen, tatsächlich weniger „blöd“ wird – wenn man hinter der Wut die Hilflosigkeit oder Verletztheit wahrnimmt und darauf eingeht, oder wenn man, anstatt die Gewaltfreie Kommunikation zu predigen es tatsächlich schafft, einfach mal empathisch zuzuhören und den anderen darin unterstützt, seine eigene Lösung zu finden. Was für eine Erleichterung, einen Weg aus dem selbstgebastelten Gefängnis zu finden!
„Wenn dir nur eine Lösung zu einem Problem einfällt, bist du noch Teil des Problems“
- ein weiterer Spruch von Marshall Rosenberg, den ich sehr schätze, weil er so deutlich darauf hinweist, dass die innere Freiheit, verschiedene Optionen zu finden, dadurch entsteht, dass man sich mit seinen Bedürfnissen verbindet.
Feinde-Geschichten – Simran Wester
Ein Mensch ist uns nur so lange fremd (oder auch ein Feind), solange wir seine Geschichte nicht kennen. Wenn wir seine Geschichte kennen und verstehen, welche Herzensanliegen bzw. Bedürfnisse diesen Menschen prägen, fällt es uns viel leichter, uns mit ihm zu verbinden, weil wir diese Bedürfnisse ja auch kennen. Feindbilder abzubauen und den Menschen hinter den Strategien zu entdecken, ist ein großes Anliegen der Gewaltfreien Kommunikation.
Tadel-los – Simran Wester
In einem Buch habe ich den Vorschlag gefunden, sich selbst zu versprechen, „tadellos mit meinem Wort und bedachtsam mit meinen Worten“ zu sein. Tadellos im Sinne von ohne Tadel. Das hat mich sehr angesprochen, und sofort sind mir zahlreiche Situationen eingefallen, wo ich weder das eine noch das andere gewesen bin. Einer Freundin etwas über eine andere zu erzählen, was diese ihr vermutlich lieber selbst – wenn überhaupt – erzählt hätte, zum Beispiel. Ich wollte schon anfangen, mich dafür zu tadeln, habe dann aber am Eingang in die Schuld-und Scham-Sackgasse beschlossen, doch jetzt gleich tadel-los zu sein, und zwar mir selbst gegenüber.
Wie geht das. Sätze von Marshall Rosenberg fallen mir dazu ein: „Es gibt einen guten Grund für jede Handlung.“ Und: „Du tust zu jeder Zeit das Beste, was du tun kannst – wenn du etwas Besseres wüsstest, würdest du das tun.“ Und: „Sich selbst zu vergeben mit GfK geht so: wir verbinden uns mit den Bedürfnissen, die wir durch die Handlung erfüllen wollten, die wir jetzt bedauern.“
Ich besinne mich also auf das Bedürfnis, das ich durch meine unbedachten Worte erfüllen wollte. Verbindung fällt mir ein, bereichernd beitragen, Wertschätzung. Unter den Schimpfgedanken, wie unachtsam ich da mal wieder war, spüre ich mein Bedauern, dass mir in dem Moment kein besserer Weg eingefallen ist, für diese Bedürfnisse zu sorgen. Dabei merke ich, dass mein Bedürfnis, Wertschätzung für meine Kompetenz zu bekommen, sowieso sehr verschämt ist, sich kaum traut, sich zu zeigen, weil es glaubt, nicht okay zu sein – und deswegen immer wieder aus dem Unterbewusstsein heraus sozusagen auf den Zug aufspringt, wenn ein anderes Bedürfnis sich gerade Erfüllung holt (mit Vorliebe „bereichernd beitragen“). Und weil es aus dem Unterbewusstsein wie aus einem Hinterhalt heraus agiert, werden meine Worte unbedacht, schießen weit über das Ziel hinaus und ich stehe Konsequenzen gegenüber, für die es mir schwer fällt, Verantwortung zu übernehmen – oder ich mich selbst tadele oder verurteile. Aha. Also gilt es, dieses Bedürfnis ernst zu nehmen und mir ganz bewusst Strategien oder Wege zu überlegen, wie ich Wertschätzung bekommen kann. Ich beschließe meine Selbstreflexion damit, dass ich ebenfalls die Bedürfnisse würdige, die hinter der fast erfolgten Selbstverurteilung stehen und lade das Leben ein, mir Wege zu zeigen, wie ich in der Harmonie aller meiner Bedürfnisse bleiben kann.